Klaus Minges, Dr. phil.


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Berber: Alles ist Zauber

Marokko und das Kunsthandwerk der Berber


Marokko bildet zusammen mit Algerien und Tunesien den Maghreb, einen Kulturraum, der durch die Sahara von Schwarzafrika getrennt wird. Innerhalb der arabischen Zivilisation hat er sich seine Eigenständigkeit bewahrt, denn von den Zentren der orientalischen Welt trennen ihn Tausende von Kilometern, ja er verkörpert sprichwörtlich das Ende der Welt: Marokko wird arabisch der "Maghreb al-aqsa", der äusserste Westen genannt. Diese Stellung an der Peripherie der orientalischen Zivilisation wird von der aktiven Rolle überlagert, die die Urbevölkerung des nordwestlichen Afrika spielt: Die Berber. In der Antike wurden sie als Afrikaner, Libyer oder Numidier bezeichnet. Der Name "Berber" erscheint weder in der Naturgeschichte des Plinius noch bei anderen antiken Autoren, sondern erst bei arabischen Schriftstellern, die ihn wohl von "barbari", dem Begriff für nicht Latein oder Griechisch sprechende Völker, ableiteten.

Das einzige Kriterium, das diese ethnische Gruppe definiert, ist die Sprache, die der hamito-semitischen Sprachfamilie zugerechnet wird. Weitere Merkmale zur Bestimmung einer Volkszugehörigkeit, seien sie anthropologisch oder kulturhistorisch, fehlen oder sind aufgrund der Durchmischung mit Zuwanderern nicht mehr erkennbar. Die heutige Bevölkerung Marokkos, zur Zeit etwa 26 Millionen stark, besteht noch immer zu etwa 24% aus Berberophonen; in Algerien beträgt der berbersprachige Anteil etwa 15% der Bevölkerung, in Tunesien 1%. Auch Lybien weist eine starke Minderheit von Berbern auf, die zahlenmässig nicht erfasst ist. Doch geben diese Statistiken keine sichere Auskunft über das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen, da ein Grossteil der sich selbst als Araber bezeichnenden Menschen aus sprachlich und kulturell arabisierten Berbern besteht.

Dominiert in den städtischen Bereichen Marokkos die arabische Sprache, so wird in ländlichen Gebieten Berber gesprochen, das sich in drei grosse Dialekte gliedert. Besonders in den Gebirgsregionen wird das Arabische zwar verstanden, aber es nimmt, je abgelegener der Landstrich, desto mehr den Rang einer Fremdsprache ein.

Geschichte

Eine politisch oder kulturell einheitliche Zivilisation des Maghreb hat es nie gegeben, denn zu unterschiedlich sind die Stammeskulturen, aus denen sie sich zusammensetzt. Immer wieder aber errangen einzelne Stammesfürsten und Dynastien die Hegemonie über die Vielzahl der Stämme im heutigen Marokko. Die militärische Stärke der Berber verhinderte schon im Altertum, dass Eroberer ins Landesinnere vordrangen, da diese immer auf Führer stiessen, die die Kräfte der einheimischen Bevölkerung bündeln konnten. Die aus Phönizien gekommenen Karthager blieben in ihrer Macht auf die Küstenebenen beschränkt, und auch die Römer vermochten über die Linie Rabat - Meknès - Fès hinaus nie Einfluss zu nehmen.

Die Araber, die das Land gegen den jahrelangen Widerstand der Berberkönigin und Feldherrin Kahina am Ende des 7. Jh. eroberten, konnten die überwiegende Zahl der Berber vom Heiden-, Christen- oder Judentum zum Islam bekehren, bildeten aber selbst zunächst nur eine dünne Oberschicht. Den militärischen Eroberungswellen der islamischen Heere folgte die Infiltration arabischer Nomadenstämme, was endlich eine Hinwendung der Berberzivilisation zum orientalischen Kulturkreis zur Folge hatte.

Einmal islamisiert, entwickelten sich die kriegerisch veranlagten Berber selbst zu Vorkämpfern des neuen Glaubens. An der Eroberung Spaniens durch die Araber waren sie entscheidend beteiligt. Auch bei der Abwehr der Rückeroberungsversuche christlicher Heere führten die inzwischen in Marokko und dem maurischen Spanien herrschenden Berberdynastien der Almoraviden und Almohaden das Schwert. Der Brückenschlag der Heerführer blieb nicht ohne Einfluss auf die Kultur. Maurische Baukunst und Literatur, Dichtkunst und nicht zuletzt das Kunsthandwerk formten beidseits der Strasse von Gibraltar eine blühende Kulturlandschaft. Bei der Vertreibung des Islam aus Spanien flüchteten auch die zahlreichen Kunsthandwerker jüdischen Glaubens nach Marokko, wo Juden und Christen unbehelligt blieben. Sie konnten so zur Belebung der örtlichen Traditionen beitragen.

Trotz militärischer Niederlagen gegen die Berberfürsten beeinflussten im 16. Jh. die Osmanen, erste Seemacht des Mittelmeerraumes und selbst Träger islamischer Kultur und arabischer Schrift, die Kultur Marokkos. Doch wurde diese Innovation nur in den Zentren wirksam, wo bereits das arabische Element dominierte.

In den ländlichen Regionen Marokkos steht der einheitlichen maurischen Kultur der Königsstädte eine Vielzahl von Stammeskulturen gegenüber. Die mündliche Überlieferung der Geschichte der Berber (eine Berberschrift existiert nur bei den Tuareg) wurde im 14. Jh. von dem berberischen Geographen und Historiker Ibn Khaldoun in arabischer Schrift niedergelegt (1). Nach ihm führen sich die Bewohner des Maghreb auf drei vorislamische Stämme zurück: die Zenata, deren Nachkommen heute im Rif-Gebirge im Norden Marokkos leben, die Sanhadja, von denen die Beraber genannten Stämme des Mittleren Atlas abstammen, und die Masmouda, die heutigen Chleuh (Schlöh) im Süden. Diese Stammesgruppen seien, so schreibt Ibn Khaldoun, lange vor der Zeitenwende aus Südarabien über Äthiopien oder Ägypten nach Westen gewandert.

Vorislamische Zuwanderungen aus Europa, nachgewiesen ist allein der Vandalenzug zur Zeit der Völkerwanderung, scheinen kulturell keine Auswirkung gehabt zu haben, wohl aber sind lokale, sehr alte Fertigungstechniken aus archäologischen Funden abzulesen: Die Keramik der Berber ist getragen von einer Tradition, die sich bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen lässt. Zwar konnte sich in den auf Selbstversorgung eingerichteten Dörfern des Rif und des Atlas kein professioneller Handwerkerstand herausbilden, doch hielten die Berberfrauen, denen die Herstellung von Gebrauchskeramik und Textilien zufiel, durchaus einen künstlerischen Anspruch aufrecht, der bis heute allein aus der eigenen Tradition schöpft.

Teppiche

Auf die im Maghreb gewachsene textile Kultur, von deren Ursprüngen wir wenig wissen, trafen Einflüsse der Regionen, die mit der Berberzivilisation in Kontakt standen. Wichtige Beispiele orientalischer Herkunft sind die farbstoffliefernden Pflanzen Indigo, Henna und Safran, die die vorwiegend roten Farbtöne der Krapp-Pflanze und der Cochenille-Laus durch ein breiteres Spektrum ergänzten. Sie dienten bis zur Erfindung der chemischen Farbstoffe als Grundfarben.

Türkische Elemente prägen die Rabat-Teppiche, die seit dem Ende des 17. Jh. gefertigt werden (2). Sie haben mit den Stammes- und Dorfteppichen wenig gemein, denn sie sind ähnlich den Orientteppichen mit Bordüre und Fond angelegt, mit Medaillons, oft floralen Motiven und vielfältig abgetönten Farben.

Doch da bei der Landbevölkerung die Rabat-Teppiche als luxuriös und kultiviert galten, hat man Motivzitate daraus in den eigenen Erzeugnissen immer wieder aufgenommen. Doch hier tritt die ländliche, schriftlose Kultur der Berber in Gegensatz zur orientalischen, von der Ornamentik der Arabesken und der Kalligraphie geprägten Kunst. In den Gebieten, wo die Berber nicht arabisiert wurden, folgte das Kunsthandwerk der städtischen Entwicklung nicht, sondern blieben der eigenen Tradition verhaftet.

Andere Zweige des städtischen Kunsthandwerks, besonders die farbig glasierten Keramiken aus Fès, weisen ebenfalls auf die osmanische Kultur hin. Die Berber verzichteten auf den aufwendigen Prozess des Glasierens und bemalten die Gebrauchsware mit einfachen Mineral- oder Harzfarben. Hier sind vor allem Einflüsse aus schwarzafrikanischen Gebieten nachweisbar, denn die Sahara wirkte mit ihren Handelsrouten auf angrenzende Gebiete nicht trennend, sondern nur filternd. Gold, Elfenbein und Sklaven brachten Karavanenführern den Profit, der die Strapazen der Wüste lohnend machte, und im Schatten dieser Transporte tauschte man auch Kulturgüter und Ideen aus.

Gewebe berberischer Herkunft, die älter sind als etwa 200 Jahre, haben sich nicht erhalten, da sie starkem Verschleiss unterliegen und früher nicht von Aussenstehenden gesammelt wurden. Wir wissen aber, dass diese Textilien schon im Mittelalter im gesamten Maghreb auftauchten, ja im Trans-Sahara-Handel bis nach Schwarzafrika gelangten: Der Sägezahnrand des Rehamna-Gebietes ist durch einen Grabungsfund aus Westafrika bereits im 11. Jh. belegt (3). Aus dem 19. Jh. überdauerten wenige Stücke; Skizzen europäischer Maler legen nur ungenaues Zeugnis von ihrem Aussehen ab. Eine stilistische Entwicklung liesse sich also nur für die letzten 100 Jahre verfolgen, bedürfte aber, um gültige Aussagen treffen zu können, grösserer Materialfülle.

Unter dem französischen Protektorat, das 1912 errichtet wurde, versuchte eine Kulturbehörde, der "Service des arts indigènes", mit der Gründung von Museen in Rabat und Fès zunächst den Bestand an städtischen Teppichen aufzunehmen. Ausstellungen in Frankreich zwischen 1917 und 1922 verschafften ihnen Bekanntheit in Europa. Im Zusammenhang mit dem Museum in Rabat entstand eine "offizielle" Manufaktur, die anhand der alten Vorbilder für den Export produzieren und so die stagnierende Knüpferei Marokkos beleben sollte. Die dabei zu benutzenden Motive wurden in einem "Corpus officiel" festgeschrieben, um den "authentischen Charakter" zu garantieren (4).

Autor dieses Corpus war der Forscher Prosper Ricard. In drei weiteren Bänden nahm er mit Unterstützung des Militärs die Teppiche der Berberkulturen auf, eine Arbeit, die sich bis 1934 hinzog. (Etwa gleich lange dauerte die "Befriedung" der Gebirgsregionen durch die französische Armee, die eine halbe Million Menschen das Leben kostete.) Ziel des "Service des arts indigènes" war es, den für die Produktion von Stammes- und Dorfteppichen errichteten Manufakturen Vorlagen zur Verfügung zu stellen. Ricard erstellte deshalb von jedem aufgenommenen Teppich einen Musterbogen, in dem Knoten für Knoten verzeichnet ist.

Praktisch gleichzeitig mit der Entdeckung und Publikation der Textilkunst der Berber begann also die französische Verwaltung, die ländlichen Teppiche zum Gegenstand des internationalen Handels zu machen. Doch wurde in den Berberdörfern nie wesentlich mehr als der Eigenbedarf hergestellt; nur in Notzeiten kamen Dorfteppiche auf den Markt. Die Gründung von Manufakturen konnte zwar die entstehende Nachfrage befriedigen, aber man schuf damit ungewollt eine zweite Kategorie von Berberteppichen: die Manufaktur-Berber, die fortan in Mengen auf den europäischen und amerikanischen Markt gelangten. Was ihnen fehlt, ist die Spontaneität eines Unikates, das ohne Entwurf von einer Person nach eigenen Vorstellungen geschaffen wird. Dazu gehört die innere Zugehörigkeit der Knüpferin zu der Kultur, aus deren Tradition sie schöpft.

Die Berber finden zum Leben in der ariden Zone am Saum zwischen Wüste und Hochgebirge ähnliche Voraussetzungen wie die teppichknüpfenden Bewohner der asiatischen Bergregionen. Da das Wasserangebot nur im Winterhalbjahr für Ackerbau ausreicht, wird im Sommer Weidewirtschaft betrieben. In den Hochlagen dienen Zelte als Unterkunft (Abb. 1). Die Stoffbahnen werden aus Ziegenhaar gewebt, das die Eigenschaft hat, bei Nässe aufzuquellen. Die Zelte sind deshalb bei Trockenheit luftdurchlässig, bei Regen aber wasserdicht und bieten so in südlichen Breiten den optimalen Wetterschutz. Sie erlauben überdies, durch gelegentlichen Standortwechsel ein grösseres Weidegebiet zu bewirtschaften (5).

Selbst Halbnomaden, haben die Berber von der Kultur der Vollnomaden die starke Beweglichkeit ihrer Güter entlehnt. Als Möbel dient nur, was wirklich mobil ist, sich also leicht auf ein Kamel laden lässt: Teppich und Sack ersetzen Bett und Schrank. Damit werden die vorhandenen Ressourcen sinnvoll genutzt, denn Holz ist rar, Wolle aber reichlich verfügbar. Nach dem Bezug fester Behausungen hat sich an der Ausstattung nicht viel geändert, sieht man von Truhen und niedrigen Tischen ab.

Neben den funktionalen Aufgaben erfüllen die textilen Erzeugnisse dekorative Zwecke. Ihnen fliesst als den einzigen Flächen, die für Zierat zur Verfügung stehen, die ganze Kreativität der Herstellerin zu. Somit befriedigt die Web- und Knüpfkunst der Nomadenkulturen ein ähnliches Schmuckbedürfnis wie z.B. die Bauernmalerei der Alpen. Hier wie dort erwächst aus der dekorativen eine soziale Funktion, da mit üppiger Ausstattung von Gästeräumen, besonders aufwendigem Festtagsschmuck sowie mit Ehrengaben für die Heiligen der eigene Status zur Schau gestellt wird: Je reicher die Braut gekleidet ist, desto höher ist die Familie angesehen. Auch die Stammeszugehörigkeit wird anhand von Textilien erkannt, denn jeder Berber kann anhand des Dekors einer Satteldecke die Herkunft des Reiters bestimmen.

Baraka und böser Blick

Den zentralen Bestandteil im Glauben der Berberzivilisation bildet die Verehrung der Abkömmlinge des Propheten Mohammed sowie der Mitglieder religiöser Bruderschaften als Heilige, die die Gläubigen durch ihre religiöse Kraft beschützen. Diese Kraft heisst Baraka und besitzt die Qualität einer materiellen Strahlung. Sie strömt von den Heiligen oder ihren Gräbern, den Marabouts, aus und kann mit Textilien, die vom Heiligen berührt oder an seinem Grab befestigt wurden, gleichsam aufgefangen und transportiert werden. Ist dieser Volksglaube in der ganzen islamischen Welt verbreitet, so geht das religiöse Bewusstsein der Berber einen Schritt weiter und nimmt damit animistische Glaubensrelikte auf: Nach ihrer Auffassung sind neben Mensch und Tier auch Gegenstände beseelt und verfügen über eine positive oder negative Ausstrahlung. Schaf und Wolle, Webstuhl und Gewebe sind demnach nicht nur als Wesen zu behandeln, sondern verbreiten bzw. transportieren Baraka, die das Wesen selbst und seinen Umkreis schützt. Nutztiere wie Pferd und Kamel strahlen Baraka aus, ebenso die Pflanzen Henna, Indigo und Safran, deren Farben die Schutzfunktion der Textilien noch verstärken. Dagegen ist Eisen mit einer negativen Kraft behaftet, vor der Frauen und Kinder zu schützen sind. Der Gebrauch metallischer Werkzeuge, auch der Nähnadel, ist daher Männersache. Der Glaube an diese Kräfte wird im Maghreb und speziell in Marokko am intensivsten gelebt. Die islamische Lehre lehnt ihn ebenso wie den Heiligenkult ab.

Eine Beziehung des bösen Blicks zum Islam besteht nicht; er entspringt ohne Zweifel magischen, wiederum animistischen Vorstellungen. So uralt und weltumspannend dieses Phänomen ist (6), so zahlreich sind auch die Rechtfertigungen, die dem sich selbst für aufgeklärt haltenden Beobachter angeboten werden. Eine genaue Beschreibung, die am einfachsten in subjektiver Form erfolgt, vermag manche orientalische Eigenheit, die den Europäer zunächst befremdet, zu erklären:

Auslöser ist eine Person, die mich beneidet. Der böse Blick beeinträchtigt mir nahestehende Wesen (im animistischen Sinne Menschen, Tiere oder wertvolle Gegenstände aus meinem Besitz), die deren Neid erwecken. Gefährdet sind also meine Frau, mein Kind, meine Haustiere, kurz alles, was auch im 10. Gebot aufgezählt ist, und nicht zuletzt der Webstuhl, auf dem meine Frau schöne Textilien herstellt. Lebende Wesen werden krank, erleiden Unfälle, können gar sterben, der Webstuhl kann zerbrechen oder meine Frau bei Unachtsamkeit verletzen.
Um mich und meine Familie zu schützen, muss ich verhindern, dass Neid aufkommt. Ich werde also meine Frau ins Haus verbannen oder verschleiern und meinen Kindern, die im Freien spielen, nur alte Kleider geben. Haus und Hof sollen von aussen ungepflegt erscheinen. Weiterhin steht mir das magische Instrumentarium mit Amuletten und Abwehrzeichen zur Verfügung.

Da nun der böse Blick durchaus unabsichtlich ausgesandt werden kann, denn niemand ist vollständig Herr seiner Gefühle, werde ich keinen Verdacht äussern, sondern versuchen, einen potentiellen Neider, in der Regel jede Person ausserhalb meiner Familie und meines Freundeskreises, für mich einzunehmen. Ich werde ihn immer etwas freundlicher behandeln, als der gute Ton es erfordert, sei es bei der Begrüssung auf der Strasse, sei es als Gastgeber. Umgekehrt muss ich, um nicht selbst den bösen Blick auszusenden, als Gast Zurückhaltung üben und mich der Norm entsprechend verhalten, nicht zu lange mit der Frau des Hausherrn sprechen und nicht über Gebühr seinen Besitz und seine Arbeit bewundern.

Die Funktion des bösen Blicks ist offensichtlich: Er bestimmt soziales Verhalten in Bereichen, die nicht durch Hierarchien geregelt sind. Er befestigt Rollenverhalten und Gruppensolidarität und erlaubt die Ausgrenzung von Nonkonformisten aller Art, beziehungsweise er erzwingt deren Wohlverhalten. Ausserdem bietet er eine Erklärung für Gebrechen, Geisteskrankheit, Dürre, Unglück und Tod.

Zur Abwehr des bösen Blicks steht bei den Berbern, vor allem im Zusammenhang mit dem starken Glauben an Geister und Dämonen, der Schutz durch Zeichen und Amulette im Vordergrund. Am auffälligsten sind die zahlreichen Tatauierungen, die vor allem bei Frauen vieler Stämme die Körperöffnungen vor dem Eindringen der Dämonen schützen sollen. Bei Kindern nur aufgemalt, sonst meist leicht in die Haut geritzt, spiegeln sie ausserdem die Stammeszugehörigkeit und den Zivilstand, denn jeder neue Lebensabschnitt ist Anlass für eine Tatauierung (7). Die hierbei verwendeten Motive sind Teil des Fundus, aus dem die Frauen bei der Verzierung ihres Hausrates schöpfen, wobei die richtige Anwendung vom magischen Wissen und Bewusstsein abhängt. Nur wenige Motive sind eindeutig einer Funktion zuzuordnen (8).

Als Regel gilt, dass jede Darstellung, sei sie noch so abstrahiert, ihr Urbild zurückwirft. Die Raute als Symbol des Auges reflektiert also den bösen Blick, wobei gelegentlich ein Kreuz in ihrer Mitte dafür sorgt, dass er gebrochen und in die vier Winde zerstreut wird. Das Dreieck oder der bewimperte Winkel werden als Augenbraue gleich gedeutet. Eine Zickzacklinie stellt die Schlange dar, die als Symbol des Phallus für Fruchtbarkeit und Wollust sorgt, heilsam auf die Genitalien wirkt, vor Ehebruch und nicht zuletzt vor dem Biss der Tiere selbst schützt. Der Skorpion, auch in der Astrologie dem Geschlecht zugeordnet, hat die gleiche Funktion. Die Hand der Fatima, der Tochter des Propheten, kennt man als wirksamstes Abwehrzeichen des bösen Blicks und als Schutz vor Gefahr Überall im islamischen Raum. Bereits die Fünfzahl der ausgestreckten Finger, arabisch khamza, genügt ohne Geste, nur als Wort ausgesprochen, um die gleichen Funktionen zu erfüllen.

Da es sich bei der Zivilisation der Berber um ein Konglomerat von drei Kulturen mit zahlreichen Konföderationen, Stämmen und Unterstämmen handelt, ist eine weitere Befragung einzelner Motive nicht möglich. Was bei einem Volk gilt, ist beim nächsten unbekannt oder anders besetzt. Die oftmals durchgeführte Befragung der Knüpferin, die ja ihren Teppich meist behält, kann aus mehreren Gründen keine Sicherheit geben. Vor Fremden wird sie ihren "Aberglauben" nur ungern zugeben, da sie vom Imam schon genügend Vorhaltungen gehört hat. Vor Männern will sie nicht sprechen, da viele Zeichen einem kollektiven weiblichen Code entspringen. Vielleicht kennt sie die Bedeutung der Zeichen, von ihrer Mutter erlernt, selbst nicht mehr oder glaubt sie nicht, und erfindet eine Erklärung. Glaubt sie aber fest daran, so weiss sie, dass der Zauber verloren geht, wenn man darüber spricht.

Die städtischen Künstler Marokkos, die der offiziellen Lehre des Islam stärker verpflichtet sind, verstehen ihr Schaffen als Tributleistung an Allah, denn ihm gebührt die Schönheit ihrer Werke. Die Fertigung komplizierter Arabesken oder die Kunst der Kalligraphie ist eine geistige Übung, deren Ergebnis es dem Betrachter erlaubt, die Meditation der Künstlers am Objekt nachzuvollziehen. Meditation ist aber nicht Teil der ländlichen Praxis. Die Berberfrauen nehmen auf die schriftliche Kultur der Städte keinen Bezug, sondern komponieren frei, nur von wenigen stammeseigenen Traditionen geleitet. Die Darstellung auf ihrem Teppich hilft, die Baraka von Wolle, Gewebe und Motiv zu bündeln. Während der Arbeit fliesst dem Werk bei Beachtung der rituellen Vorschriften der Herstellung9 weitere Baraka zu. Die Knüpferin verfügt über die Kraft, dem von ihr erzeugten Muster die gewünschte Wirkung zuzuordnen, und sie weiss, wann ein Gewebe nicht mehr besser wird, also gefüllt ist mit Baraka, und hört dann auf. Umgekehrt wird sie vielleicht weitermachen, wenn es zwar gross genug ist, aber noch nicht gesättigt. Gute Knüpferinnen verstehen sich als Künstlerinnen und sind sich ihrer Fähigkeit bewusst, dem Teppich mittels Beachtung ritueller Vorschriften, guter Wolle und gelungener Motivwahl ein Höchstmass an Baraka mitzuteilen, so dass dieser über ein Optimum an schützender Ausstrahlung verfügt.

Anmerkungen:

1 frz.: Histoire des Berbères et des dynasties musulmanes de l'Afrique septentrionale, 4 Bde., Paris 1968-1969

2 Nicolosi, Alfio: Rabati Zerbia. Il tappeto di Rabat tra storia e legenda, in: Ghereh 6.1995, 33-37, engl. XIV-XVI

3 Jereb 1995, 41-42

4 Ricard, Prosper: Corpus des Tapis Marocains, Bd.1, Tapis de Rabat, Paris 1923

5 Eine genaue Beschreibung der Wirtschaftsform liefert Stanzer 1991, 28-35

6 Clarence Maloney (Hg.): The evil eye, New York 1976

7 Jereb 1995, 22-24

8 Stanzer 1991, 60-63 mit weiterer Literatur

9 vor allem Bestimmungen zum richtigen Zeitpunkt des Webstuhlaufbaus und des Abnehmens des Gewebes (Neumann 1983, 55-57).

Weiterführende Literatur:

Minges, Klaus: Die Rezeption der Berberteppiche in Europa, in: Berber, Teppiche und Keramik aus Marokko

Boëly, Gérard: Eine einzigartige Technik: Der Berberknoten, in: Hali 5/3, 1983, 278-279

Ders.: Tappeti rurali maroccini, differenze e originalità, in: Ghereh 6, 1995, 21-37, engl. VI-XIV

Fiske, Patricia/Pickering, W. Russell/Yohe, Ralph S.: From the far West: Carpets and textiles of Morocco, Washington D.C. 1980

Jereb, James F.: Arts and Crafts of Morocco, London 1995

Neumann, Wolfgang: Die Berber. Vielfalt und Einheit einer traditionellen nordafrikanischen Kultur, Köln 2.1987

Pickering, Brooke/Pickering, W. Russell/Yohe, Ralph S.: Moroccan Carpets, Chevy Chase/Maryland 1994

Samrakandi, Mohammed Habib/Flint, Bert: Mes tissages, = Horizons Maghrebins 22, Toulouse 1993

Stanzer, Wilfried: Berber, Stammesteppiche und Textilien aus dem Königreich Marokko, Hersberger Collection Muttenz; Graz 1991 (mit weiterer Spezialliteratur)

 

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Klaus Minges · Mail: klausminges@yahoo.com · Web: www.minges.ch