Marokko
gilt für den Europäer mit seinen seit dem 16. Jh. kolonisierten Küstenstädten
als ein weltoffenes Land, durch die Handelsschiffahrt eng mit Europa
und Amerika verknüpft. Das Landesinnere hingegen blieb bis ins 19.
Jh. eine abgeschiedene Region. Wenigen Europäern gelang es, die verbotenen
Städte des Hinterlandes kennenzulernen, ganz zu schweigen von den
Gebirgsregionen, die für Nicht-Muslims lebensbedrohend waren. Diese
Fremdenfeindlichkeit ist für islamische Länder ungewöhnlich und erklärt
sich aus der Vorherrschaft der malekitischen Schule der sunnitischen
Glaubensrichtung. In ihrem Einflussbereich, neben Marokko der Grossteil
der arabischen Halbinsel, lehnt sie den Kontakt mit Ungläubigen ab
und verwehrt diesen bis heute den Zugang zu den Moscheen.
So blieben
Besuche von europäischen Malern und Zeichnern, die allein präzise
Auskunft über ältere Textilien der Berber hätten geben können, im
marokkanischen Hinterland eine Ausnahme. Eugène Delacroix (1798-1863)
ergriff 1832 die Gelegenheit, in offizieller Mission Frankreichs einen
königlichen Diplomaten von Tanger in die damalige Hauptstadt Meknès
zu begleiten (1). In seinen Kostümskizzen spielen Textilien als Gewand,
Hintergrund und Lager für das Modell eine wichtige Rolle. Als luxuriöse
Accessoires bei seinen orientalistischen Ölgemälden wie "Les Femmes
d'Alger" von 1834 durften sie nicht fehlen. Es liegt nahe, dass auf
Delacroix' Bildern die im Bereich der Königsstädte dominierenden orientalisch
beeinflussten Teppiche und Kissen erscheinen, doch sind auch die grossen
Rauten, die für die Berber des Mittleren Atlas charakteristisch sind,
vertreten (2). Der Orientalist Eugène-Alexis Girardet (1853-1907),
Spross einer Neuenburger Malerfamilie, die sich in Paris angesiedelt
hatte, besuchte 1874 als 21jähriger Marokko, später auch Algerien.
Er versuchte vor allem, die Exotik der Landschaft einzufangen und
lieferte ein genaues Bild der berberischen Nomadenzelte (Abb. 1).
Der
Ablauf dieser Reise ist kaum dokumentiert, da er kein Tagebuch führte.
Besser
sind wir über Marokko durch Frank Buchser (1828-1890) unterrichtet,
der 1858 mehr als Abenteurer denn als Künstler nach Marokko ging,
um seine Erlebnisse als illustrierte Reportage in der Berner Zeitung
"Der Bund" zu veröffentlichen. Er beschreibt in seinem Reisebericht
(3), wie er, als islamischer Heiliger verkleidet, von Tanger ins Landesinnere
bis nach Fès und in die Grabmoschee des Landesheiligen Moulay Idriss
vordrang, ohne aber Gelegenheit zu ausgiebigem Skizzieren gefunden
zu haben. 1880 widmete er sich auf einer weiteren Reise nach Tanger
der afrikanischen Landschaft, dem Leben und der Kultur der Mauren
und setzte seine Studien in Ölgemälde um.
Obwohl
Buchser sich mehr als Berichterstatter denn als Orientmaler französischer
Schule sah, blieb er der europäischen Sehweise der Kolonialzeit verhaftet,
ähnlich wie Delacroix, der nicht die orientalische Welt "entdeckt"
hat, sondern die Bestätigung europäischer Vorurteile suchte und ins
Bild setzte. Ebenso erwies Buchser westlichen, literarisch geprägten
Vorstellungen von 1001 Nacht, zügellosem Haremsleben, unermesslichem
Reichtum und kostbaren Spezereien seine Reverenz. Nach der Rückkehr
aus Marokko malte er einen Zyklus von leicht bekleideten "Huri", den
islamischen Paradiesjungfrauen, die an erotischer Ausstrahlung nichts
zu wünschen übrig liessen.
Andererseits
sahen sich die Maler des späteren 19. Jh. mit einem starken Interesse
des Publikums am wirklichen Leben in den Kolonien konfrontiert. Man
verlangte nach realistischer Szenerie, nach ethnographischer Genremalerei,
die aber den eigenen Phantasien noch Spielraum einzuräumen hatte.
Kunsthandwerkliche Produkte Marokkos fanden so als Versatzstücke in
der Malerei durchaus die Aufmerksamkeit der Europäer, ja Buchser sah
sogar in der einfachen Gebrauchskeramik der Rif-Berber ein bildwürdiges
Motiv (Abb. 2). Berberteppiche aber finden sich weder bei Buchser
noch seinen Kollegen. Die begeisterte Aufnahme, die einst Orientteppiche
bei Renaissance-Malern wie Holbein und Lotto gefunden hatten, wurde
den Berbern im 19. Jh. nicht zuteil, denn offenbar entsprachen sie
nicht dem im Historismus herrschenden Ideal von Teppichen, das als
erstes Kriterium handwerkliche Perfektion, als zweites Symmetrie und
schliesslich eine möglichst flächendeckende Ornamentik forderte.
1912
verlor Marokko als letztes afrikanisches Land die Unabhängigkeit und
in der Folge, wenn auch langsam, seine Schrecken als Reiseland. Auf
die Orientalisten folgten nun Künstler der europäischen Avantgarde,
die nicht mehr das Abenteuer, sondern neben der afrikanischen Landschaft
das Neuland der Kunst "primitiver" Völker suchten. Von der Warte des
heutigen Kunstbetrachters aus ist man versucht, aufgrund optischer
Ähnlichkeiten Parallelen zwischen Berberteppichen und Kunstwerken
der klassischen Moderne zu ziehen, denn man weiss, dass die Kunst
aussereuropäischer Ethnien bedeutende Anregungen für den "Primitivismus"
beispielsweise der Kubisten gegeben hat. Hierbei standen aber maghrebinische
Textilien im Schatten der schwarzafrikanischen und orientalischen
Kunst, und es bleibt zu prüfen, ob sie überhaupt wahrgenommen wurden.
Henri
Matisse kannte islamische Kunst von Ausstellungen in Paris und
von Reisen nach Algerien und Marokko. Sein speziell auf Teppiche gerichtetes
Interesse erwachte 1910 in einer Islam-Ausstellung in München. In
seinen Stilleben findet sich denn auch die Arabeske orientalischer
Herkunft in wuchernder, alle textilen Flächen übergreifender Form,
oder die geometrisierten Blüten der Turkmenen füllen seine Raumtextilien
("Die Familie des Malers", 1911, Eremitage Leningrad). Der Knüpfkunst
der Berber gegenüber, die er in Tanger sicher gesehen hat, scheint
er teilnahms- oder gar ratlos geblieben zu sein. Ein konkretes malerisches
Echo jedenfalls lässt sich nicht feststellen.
Betrachtet
man einen Boujad oder Chiadma, so denkt man zuerst an Paul Klee
und fragt nach einem Zusammenhang. Seine Tunisreise von 1914 beeinflusste
Klee zunächst im Sinne eines "Kulturschocks", wie aus seinen Tagebüchern
hervorgeht. Licht und Landschaft sowie nicht zuletzt die Exotik der
Bewohner liessen aber wenig Raum für detaillierte Einzelheiten; zudem
sollte man die Präsenz von Berberteppichen in Tunesien nicht überschätzen.
Dennoch empfing Klee sicher eine Sensibilisierung, denn in seinen
Tagebüchern skizzierte er einen Teppich, wohl einen Boujad, und nach
der Reise malte er das Bild "Der Teppich der Erinnerung" (Abb. 3).
Die eher
bescheidene Dokumentation der Berbertextilien in der Malerei beliess
ihren Bekanntheitsgrad in Europa auf niedrigem Niveau. Erst die französische
Kulturpolitik, ausgerichtet an wirtschaftlichen Interessen, änderte
dies. Die Ausstellungen marokkanischen Kunsthandwerks in den 20er
Jahren liessen die Künstler des Art Déco, selbst auf geometrischen
Dekor ihrer Objekte ausgerichtet, auf die ländlichen Teppiche aufmerksam
werden. Yvan da Silva-Bruhns etwa schuf neben weiss-braunen,
langflorigen Tapisserien auch starkfarbige Entwürfe, die auf die Haouz-Region
Bezug nahmen. Man ging aber auch den umgekehrten Weg: Französische
Designer gaben den marokkanischen Manufakturen Muster vor, mit denen
Textilien und Keramik zu verzieren waren (Abb. 4).
Mit der
Entwicklung der Innenarchitektur seit den 20er Jahren ist es zu erklären,
dass Berberteppiche zu einer Modeerscheinung in europäischen Wohnzimmern
der 50er Jahre werden konnten. Die Initiative zur Ausbreitung der
"Berber" ging von Le Corbusier aus (4); Er liebte die grossen
Rauten der Beni Ouaraïn und Zaïane: "Leur dessin géometrique, determiné
par le point noué, donne de l'echelle aux salles, un étalon de mesure.
Enchantés de pouvoir faire 'trépider' le sol par endroits. (...) Sa
couleur et sa géométrie font comme une moyenne proportionelle entre
les matières et les surfaces des murs et des meubles. (...) Faire
comme les Berbères: allier à la géométrie la plus notoire fantaisie.
Mais définir la fantaisie." (5)
Le Corbusier
baute 1923-1925 dem Bankier Raoul La Roche, Sammler kubistischer und
puristischer Malerei, eine Villa, die er mit Berberteppichen ausstattete
(6). Bei der Einrichtung des "Pavillon de l'Esprit Nouveau" in Paris,
der 1925 eine Antithese zur gleichzeitigen Art Déco-Ausstellung sein
sollte, präsentierte er diese ebenfalls und begründete sein Vorgehen
mit den theoretischen Erklärungen zu seiner Bau- und Ausstattungskunst,
die in der Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" erschienen. Ziel seines
"Vacuum cleaning", des Ausmerzens der Einrichtung bis auf wenige Standardmöbel,
war die "Läuterung der Architektur durch die Leere" (Ozenfant). Die
wenigen "objets types" zur additiven Möblierung nach den Bedürfnissen
des Bewohners sollten Serienprodukte sein. Um nun individuelle Gestaltungswünsche
erfüllen zu können, ersetzte er fehlende Farbwerte warmer Materialien
durch "Polychromie architecturale", farbige Architekturteile, die
bestimmte Stimmungen erzeugen sollten. Heterogene Gegenstände der
Ausstattung sollten drei Welten vertreten: Kultur, Folklore und Industrie.
Den "Berbern" kam, naheliegend, die Funktion des folkloristischen
Elements zu, und damit standen sie automatisch im Gegensatz zur Kultur,
die von der hohen Kunst der Puristischen Malerei vertreten war. Seine
Ablehnung des Kunstgewerbes, das in diesem Schema keinen Platz hat,
fand in den "Berbern" die geeigneten Vertreter eines Anti-Kunstgewerbes,
die gerade durch fehlende Perfektion und Harmonie auffallen.
Folgerichtig
erhob Le Corbusier bei der Wahl der Teppiche keinen Anspruch auf künstlerische
Qualität. Die oben zitierten Merkmale genügten für seine Zwecke: "La
géométrie de la machine nous conduit aux jubilations géométriques."
(7) Der unendliche Rapport der Rauten, ihre rhythmische Aneinanderreihung
war es, die den Boden zum Vibrieren bringen sollte, nicht etwa die
künstlerische Ausstrahlung. Daher genügten ihm die Erzeugnisse der
Manufakturen vollauf, ja die fabrikmässige Produktion kam ihm sogar
entgegen, da sie sich besser an den Bedürfnissen des Marktes orientierte
als die Knüpferinnen in den Berbersiedlungen. Seine funktionellen
Wünsche wurden ohnehin fast nur von den Kulturen des Mittleren Atlas
erfüllt, aus den Ebenen von Marrakech oder Boujad kann er nach diesen
Aussagen kaum Teppiche bezogen haben. In diesem Sinne erklärt sich
der Schwerpunkt der in Europa marktfähigen Berberteppiche, der bei
den Beni Ouaraïn, Marmoucha und M'rirt, allenfalls noch den Zaïane
liegt (Kat-Nr. 30, 32, 37).
Am Bauhaus,
seit 1925 in Dessau angesiedelt, waren Berberteppiche ebenfalls bekannt.
In Kandinskys Dessauer Wohnzimmer, fotografiert 1932, lag ein
Boujad (?) vor einer Sitzgruppe (8). Gunta Stölzl fertigte 1926-1928
Tapisserien, die erstaunliche Ähnlichkeit mit Berbern aufweisen (9),
ohne dass hier ein Zusammenhang nachgewiesen wäre. Doch arbeitete
sie mit Marcel Breuer zusammen, der die Teppiche kannte, da er mit
Le Corbusier Kontakt hatte, und in den frühen 30er Jahren Reisen nach
Nordafrika unternahm.
Paul
Klee, der bis 1931 am Bauhaus Form und Gestaltung lehrte und bis
1933 in Dessau wohnte, muss davon Kenntnis genommen haben. Ob er allerdings
Anregungen von den Berbern bezog, scheint fraglich. Dazu ist die Stringenz
seiner Werke, die sich optisch den Teppichen annähern, innerhalb seines
gesamten OEuvre zu offenkundig. In seinen Vorlesungen zur Form- und
Gestaltungslehre leitete er ähnliche Merkmale in naturwissenschaftlicher
Manier ab, so dass eher eine Analogie als die direkte Übernahme anzunehmen
ist. Klee mag sich in den "primitiven" Geometrien und klaren Farben
der Berber durchaus bestätigt gefühlt haben. Immerhin gehen die Parallelen
über formale Ähnlichkeiten hinaus, denn sowohl in der Symbolsprache,
der Chiffrierung von Inhalten zu Zeichen sowie auch der Zerteilung
seiner Bilder mit der Schere, die an die unvermittelt wechselnden
Motivstreifen von Teppichen des Mittleren Atlas erinnern (10), ging
er methodisch auf ähnliche Weise wie die Teppichknüpferinnen vor.
Im Gegensatz
zu Le Corbusiers Beschränkung auf seine Favoriten, die weissen Rautenteppiche,
sind am Bauhaus auch die "wilden" roten Teppiche des Haouz und Boujad
ohne rhythmische Musterung beachtet worden. Das Interesse der Bauhaus-Architekten
galt den Berberteppichen vor allem wegen ihrer optischen Dominanz,
die der kühlen Architektur einen starken Akzent verleihen konnte.
Zur grosszügigen Farb- und Motivgestaltung kam als zweiter Vorteil
offenbar die mangelnde technische Perfektion: Bei den "wilden" Berbern
findet man weder Symmetrie im Muster noch Disziplin in den Abmessungen.
Auf dem nur aus Knüppeln bestehenden Nomadenwebstuhl liessen sich
präzise rechteckige Stücke nicht herstellen. Anfang und Abschluss
sind in der Regel unterschiedlich gestaltet; Fransen gibt es meist
nur an einem Ende. Diese Disharmonien boten den erwünschten Kontrast
zum bisherigen überladenen Wohnstil einerseits, andererseits aber
auch zur eigenen geradlinigen Innenarchitektur.
Um diesen
Gegensatz in den grossen Räumen neuerbauter Häuser deutlich zu machen,
waren die roten Haouz aus den Ebenen von Marrakech oder die starkfarbigen
Teppiche der Zemmour und Zaïane aus dem Mittleren Atlas ideal. Für
kleinere Etagenwohnungen aber, die ohnehin meist übermöbliert waren,
brauchte man neutrale Bodenbeläge, welche die bis dahin gebräuchlichen
Sisalreps-Matten ersetzen konnten und farblich ebenso zurückhaltend
blieben. So setzten sich die ungefärbten Berber schliesslich durch.
Bei der
Versorgung des mitteleuropäischen Marktes mit genuinen Stammesteppichen
spielte eine Interieur-Firma in Zürich die Hauptrolle. Die 1931 im
Blick auf den vom Bauhaus vertretenen Stil gegründete "Wohnbedarf
AG" verfügte durch ihren Mitgründer, den Kunsthistoriker Siegfried
Giedion, über beste Kontakte zur internationalen Avantgarde der
Architektur. Mit Le Corbusier arbeitete man 1932 anlässlich einer
Wohnausstellung in Genf zusammen (11). Für die Firma entwarf seit
diesem Jahr auch Marcel Breuer, der 1928 das Bauhaus verlassen
hatte, aber bis 1934 in Berlin wohnte. Er hatte in dieser Zeit Reisen
nach Nordafrika unternommen, war vielleicht ausschlaggebend für den
Import nach Zürich und trug vermutlich entscheidend dazu bei, die
Berber am Bauhaus bekannt zu machen.
In den
50er Jahren bezog der "Wohnbedarf" Berberteppiche von dem Importeur
Emil Storrer, einem ehemaligen Fremdenlegionär und exzellenten Kenner
der Materie, der die Ware nicht nur bei den Händlern in Marrakech
kaufte, sondern selbst in die Dörfer und Täler des Atlas fuhr und
bei den Knüpferinnen nach ersten Qualitäten suchte. Auch Gebrauchskeramik
brachte er nach Zürich und belieferte von hier aus Kunden in ganz
Europa. Zu den Käufern zählte neben zahlreichen Künstlern und Architekten
ab 1938 das Kunstgewerbemuseum Zürich (Kat.-Nrn. 3, 32, 34, 39).
Seit
den 50er Jahren gewannen die "wilden" Berber Einfluss auf die aktuelle
Kunst. Schweizer Künstler, die mit dem hier praktizierten bodenständigen,
brauchtumsnahen textilen Handwerk nicht konform gingen, fanden in
ihnen neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Gottfried Honegger,
Vertreter der Schweizer konkreten Künstler, machte 1951-1953 auf Anregung
der Genossenschaft "Wohnhilfe" in Zürich den Versuch, die Bildsprache
der Berberteppiche in das eigene Schaffen aufzunehmen und entwarf
eine Serie von 24 geknüpften Bodenbelägen, die in der Ostschweiz unter
dem Namen "Tisca-Berber" hergestellt wurden. Das Kunstgewerbemuseum
Zürich stellte diese Arbeiten 1953 aus. Die Neue Zürcher Zeitung lobte
den "fanfarenhaft vehementen Vorstoss", die "wagemutige, oft laute
und bunte Koloristik", ohne aber die Quelle von Honeggers Inspiration
zu erwähnen.
Man erhoffte
sich seitens der Wohnhilfe von den "Berbern" Honeggers offenbar einen
farbigen Impuls für Raumtextilien im Interieurstil der Fünfziger Jahre.
Anfangs folgte er mit dickflorigen Bodenbelägen diesem Wohnstil, aber
in späteren Stücken griff er direkt auf Berbermotive zurück. Er sah
seine Teppiche bald als Kunstwerke, die unabhängig von hiesigen Vorstellungen
der Textilgestaltung blieben. Im abgebildeten Stück des Museums Bellerive
(Abb. 5) nimmt Honegger neben der einfachen Geometrie und der symmetrie-
und rahmenlosen Motivkombination auch die Art des Florfadens und die
Technik der Berberfrauen auf, dem Teppich mit mehreren Zwischenschüssen
einen weichen Griff zu verleihen. In anderen Entwürfen nahm er das
für die Glaoua charakteristische Nebeneinander von Flor und Flachgewebe
auf, ein "reichlich brüsker Effekt", wie die NZZ am 12.3.1953 befand.
Gottfried
Honegger kaufte in den 50er Jahren beim Wohnbedarf einen grossen,
einfarbig krapproten Haouz, wie sie in der ersten Jahrhunderthälfte
entstanden und heute kaum mehr zu finden sind. Ihren Reiz erhalten
diese Teppiche durch den "abrash", eine changierende Tönung in derselben
Farbe, die durch verschiedene Wollchargen entsteht, da der manuelle
Färbeprozess nie eine konstante Farbintensität hervorbringt. Diese
minimalen Unterschiede werden von den Berberfrauen bewusst zur Gestaltung
herangezogen. 1958 ging Honegger nach New York, wo er rote Quadrate
malte und sich besonders von der Farbfeldmalerei Mark Rothkos
angezogen fühlte, mit dem er sich anfreundete. Rothko erzielte mit
vergleichbaren Mitteln ähnlich starke Wirkungen, was die Frage eines
seiner Bildtitel: "Who is afraid of Red?" durchaus auf die krapproten
Teppiche übertragbar macht.
Diese
waren im "Wohnbedarf" sehr schwer zu verkaufen, vielleicht weil der
von ihnen ausgehende starke optische Reiz keine Konkurrenz duldet.
In den schlichten Räumen der Berber ist ja eine solche nicht vorhanden.
Dagegen wurde bereits auf der Teppichausstellung des Kunstgewerbemuseums
Zürich den beigefarbenen, "wie ein molliges Fell" wirkenden Tisca-Teppichen,
die sich von den Erzeugnissen der Beni Ouaraïn (vgl. Kat-Nrn. 30-34)
ableiten lassen, eine "diskrete, zeitlose Eleganz" bescheinigt (12).
Nach
der kantigen Strenge des Bauhauses fand das Publikum in den 60er Jahren
Geschmack an den aus Holz gefertigten, gerundeten Möbeln der skandinavischen
Designer, die aber nach wie vor mit Ornamenten sehr sparsam umgingen.
Obwohl mit diesem Interieurstil die finnischen Rya-Teppiche
optimal harmonierten, passten die hellen, langflorigen Teppiche aus
dem Mittleren Atlas immer noch ausgezeichnet. Böden aus Parkett und
Klinker boten eine geeignete Unterlage. Den gleichen Kriterien entsprachen
die Manufaktur-Berber aus ungefärbter Wolle, die preiswert in den
Handel gelangten.
Das postmoderne
Interieur, in dem Naturstein, Metall und Plastik dominieren, verlangte
nach neuen Impulsen bei den Raumtextilien. Helle Fussböden aus Kalksinter
oder Marmor geben für die beigefarbenen Berber keine geeignete Unterlage
ab, während das kühle Blau der aus Nepal stammenden "Tibeter" mit
abstraktem, von westlichen Designern entworfenem Dekor diesem Material
entgegenkam. Sie eroberten in den 70er Jahren den Markt von den Berbern,
konnten sie doch mit qualitätvoller Hochlandwolle den Ansprüchen eines
liquiden Kundenkreises gerecht werden.
Seit
Innenarchitekten und Designer zunehmend farbenfrohe Möbel und Wohnaccessoires
auf den Markt bringen, neigt sich das Wohlwollen der Teppichkäufer
den kräftig gefärbten, aber sparsam gemusterten Persern aus Gabbeh
zu, die ebenfalls von westlichen Designern entworfen sind. Diese Teppiche
weisen nicht nur in der Farbigkeit, sondern auch im rapportlosen,
asymmetrischen Dekor Ähnlichkeit mit der Knüpfkunst einiger Berberkulturen
auf. Sie haben allerdings mit den ursprünglichen Nomadenteppichen
genauso wenig zu tun wie die Manufaktur-Berber mit den Stammes- und
Dorfteppichen aus dem ländlichen Marokko.
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Anmerkungen:
1 Delacroix,
Le voyage au Maroc. Katalog Paris, Institut du Monde Arabe, 1994
2 ebd.,
Kat-Nr. 15, S. 150
3 Ritt
ins dunkle Marokko, Aarau 1937
4 Rüegg,
Arthur: Der Pavillon de l'Esprit Nouveau als Musée Imaginaire, in:
von Moos, Stanislaus (Hg.): L'Esprit Nouveau. Le Corbusier und die
Industrie 1920-1925, Katalog Zürich 1987, 134-152, s.S. 141, 150-151
5 L'Almanach
de l'Architecture moderne, Paris 1926, 170-171
6 Benton,
Tim: Raoul La Roche - Sammlung und Haus, in: ebd., 80-93
7 Almanach
1926, 171
8 Kandinsky
in Russland und am Bauhaus 1915-1933, Katalog Zürich 1984, 191
9 Abb.
in Wortmann-Weltge, Sigrid: Bauhaus-Textilien. Kunst und Künstlerinnen
der Webwerkstatt, Schaffhausen 1993
10 Stanzer
1991, S. 95
11 F.
Mehlau-Wiebking/A. Rüegg/R. Tropeano: Schweizer Typenmöbel 1925-1935.
Siegfried Giedion und die Wohnbedarf AG, = Dokumente zur modernen
Schweizer Architektur, Zürich 1989, 42-45
12 Tages-Anzeiger
vom 10.3.1953
Bildlegenden
(aus
Copyright-Gründen nur im gedruckten Band gezeigt)
Abb.
1 Eugène-Alexis Girardet: Nordafrikanische Landschaft, nach 1874,
Öl/Leinwand, 66,5 x 87 cm, Privatsammlung
Abb.
2 Frank Buchser: Marokkanische Geschirrverkäuferin, 1886, Öl/Leinwand,
53,5 x 33 cm, Kunstmuseum Solothurn
Abb.
3 Paul Klee: Der Teppich der Erinnerung, 1914, Öl/Leinen auf Karton,
40 x 52 cm, Kunstmuseum Bern, Paul-Klee-Stiftung, Bern
Abb.
4 Vase, Marokko, 20er Jahre, Ton, engobiert und bemalt, Museum Bellerive
Zürich
Abb.
5 Gottfried Honegger: Tisca-Berber, 1953, Leinen und Wolle, 196 x
98 cm, Museum Bellerive Zürich