Klaus Minges, Dr. phil.


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Die Rezeption der Berberteppiche in Europa


Marokko gilt für den Europäer mit seinen seit dem 16. Jh. kolonisierten Küstenstädten als ein weltoffenes Land, durch die Handelsschiffahrt eng mit Europa und Amerika verknüpft. Das Landesinnere hingegen blieb bis ins 19. Jh. eine abgeschiedene Region. Wenigen Europäern gelang es, die verbotenen Städte des Hinterlandes kennenzulernen, ganz zu schweigen von den Gebirgsregionen, die für Nicht-Muslims lebensbedrohend waren. Diese Fremdenfeindlichkeit ist für islamische Länder ungewöhnlich und erklärt sich aus der Vorherrschaft der malekitischen Schule der sunnitischen Glaubensrichtung. In ihrem Einflussbereich, neben Marokko der Grossteil der arabischen Halbinsel, lehnt sie den Kontakt mit Ungläubigen ab und verwehrt diesen bis heute den Zugang zu den Moscheen.

So blieben Besuche von europäischen Malern und Zeichnern, die allein präzise Auskunft über ältere Textilien der Berber hätten geben können, im marokkanischen Hinterland eine Ausnahme. Eugène Delacroix (1798-1863) ergriff 1832 die Gelegenheit, in offizieller Mission Frankreichs einen königlichen Diplomaten von Tanger in die damalige Hauptstadt Meknès zu begleiten (1). In seinen Kostümskizzen spielen Textilien als Gewand, Hintergrund und Lager für das Modell eine wichtige Rolle. Als luxuriöse Accessoires bei seinen orientalistischen Ölgemälden wie "Les Femmes d'Alger" von 1834 durften sie nicht fehlen. Es liegt nahe, dass auf Delacroix' Bildern die im Bereich der Königsstädte dominierenden orientalisch beeinflussten Teppiche und Kissen erscheinen, doch sind auch die grossen Rauten, die für die Berber des Mittleren Atlas charakteristisch sind, vertreten (2). Der Orientalist Eugène-Alexis Girardet (1853-1907), Spross einer Neuenburger Malerfamilie, die sich in Paris angesiedelt hatte, besuchte 1874 als 21jähriger Marokko, später auch Algerien. Er versuchte vor allem, die Exotik der Landschaft einzufangen und lieferte ein genaues Bild der berberischen Nomadenzelte (Abb. 1). Der Ablauf dieser Reise ist kaum dokumentiert, da er kein Tagebuch führte.

Besser sind wir über Marokko durch Frank Buchser (1828-1890) unterrichtet, der 1858 mehr als Abenteurer denn als Künstler nach Marokko ging, um seine Erlebnisse als illustrierte Reportage in der Berner Zeitung "Der Bund" zu veröffentlichen. Er beschreibt in seinem Reisebericht (3), wie er, als islamischer Heiliger verkleidet, von Tanger ins Landesinnere bis nach Fès und in die Grabmoschee des Landesheiligen Moulay Idriss vordrang, ohne aber Gelegenheit zu ausgiebigem Skizzieren gefunden zu haben. 1880 widmete er sich auf einer weiteren Reise nach Tanger der afrikanischen Landschaft, dem Leben und der Kultur der Mauren und setzte seine Studien in Ölgemälde um.
Obwohl Buchser sich mehr als Berichterstatter denn als Orientmaler französischer Schule sah, blieb er der europäischen Sehweise der Kolonialzeit verhaftet, ähnlich wie Delacroix, der nicht die orientalische Welt "entdeckt" hat, sondern die Bestätigung europäischer Vorurteile suchte und ins Bild setzte. Ebenso erwies Buchser westlichen, literarisch geprägten Vorstellungen von 1001 Nacht, zügellosem Haremsleben, unermesslichem Reichtum und kostbaren Spezereien seine Reverenz. Nach der Rückkehr aus Marokko malte er einen Zyklus von leicht bekleideten "Huri", den islamischen Paradiesjungfrauen, die an erotischer Ausstrahlung nichts zu wünschen übrig liessen.
Andererseits sahen sich die Maler des späteren 19. Jh. mit einem starken Interesse des Publikums am wirklichen Leben in den Kolonien konfrontiert. Man verlangte nach realistischer Szenerie, nach ethnographischer Genremalerei, die aber den eigenen Phantasien noch Spielraum einzuräumen hatte. Kunsthandwerkliche Produkte Marokkos fanden so als Versatzstücke in der Malerei durchaus die Aufmerksamkeit der Europäer, ja Buchser sah sogar in der einfachen Gebrauchskeramik der Rif-Berber ein bildwürdiges Motiv (Abb. 2). Berberteppiche aber finden sich weder bei Buchser noch seinen Kollegen. Die begeisterte Aufnahme, die einst Orientteppiche bei Renaissance-Malern wie Holbein und Lotto gefunden hatten, wurde den Berbern im 19. Jh. nicht zuteil, denn offenbar entsprachen sie nicht dem im Historismus herrschenden Ideal von Teppichen, das als erstes Kriterium handwerkliche Perfektion, als zweites Symmetrie und schliesslich eine möglichst flächendeckende Ornamentik forderte.

1912 verlor Marokko als letztes afrikanisches Land die Unabhängigkeit und in der Folge, wenn auch langsam, seine Schrecken als Reiseland. Auf die Orientalisten folgten nun Künstler der europäischen Avantgarde, die nicht mehr das Abenteuer, sondern neben der afrikanischen Landschaft das Neuland der Kunst "primitiver" Völker suchten. Von der Warte des heutigen Kunstbetrachters aus ist man versucht, aufgrund optischer Ähnlichkeiten Parallelen zwischen Berberteppichen und Kunstwerken der klassischen Moderne zu ziehen, denn man weiss, dass die Kunst aussereuropäischer Ethnien bedeutende Anregungen für den "Primitivismus" beispielsweise der Kubisten gegeben hat. Hierbei standen aber maghrebinische Textilien im Schatten der schwarzafrikanischen und orientalischen Kunst, und es bleibt zu prüfen, ob sie überhaupt wahrgenommen wurden.

Henri Matisse kannte islamische Kunst von Ausstellungen in Paris und von Reisen nach Algerien und Marokko. Sein speziell auf Teppiche gerichtetes Interesse erwachte 1910 in einer Islam-Ausstellung in München. In seinen Stilleben findet sich denn auch die Arabeske orientalischer Herkunft in wuchernder, alle textilen Flächen übergreifender Form, oder die geometrisierten Blüten der Turkmenen füllen seine Raumtextilien ("Die Familie des Malers", 1911, Eremitage Leningrad). Der Knüpfkunst der Berber gegenüber, die er in Tanger sicher gesehen hat, scheint er teilnahms- oder gar ratlos geblieben zu sein. Ein konkretes malerisches Echo jedenfalls lässt sich nicht feststellen.

Betrachtet man einen Boujad oder Chiadma, so denkt man zuerst an Paul Klee und fragt nach einem Zusammenhang. Seine Tunisreise von 1914 beeinflusste Klee zunächst im Sinne eines "Kulturschocks", wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht. Licht und Landschaft sowie nicht zuletzt die Exotik der Bewohner liessen aber wenig Raum für detaillierte Einzelheiten; zudem sollte man die Präsenz von Berberteppichen in Tunesien nicht überschätzen. Dennoch empfing Klee sicher eine Sensibilisierung, denn in seinen Tagebüchern skizzierte er einen Teppich, wohl einen Boujad, und nach der Reise malte er das Bild "Der Teppich der Erinnerung" (Abb. 3).

Die eher bescheidene Dokumentation der Berbertextilien in der Malerei beliess ihren Bekanntheitsgrad in Europa auf niedrigem Niveau. Erst die französische Kulturpolitik, ausgerichtet an wirtschaftlichen Interessen, änderte dies. Die Ausstellungen marokkanischen Kunsthandwerks in den 20er Jahren liessen die Künstler des Art Déco, selbst auf geometrischen Dekor ihrer Objekte ausgerichtet, auf die ländlichen Teppiche aufmerksam werden. Yvan da Silva-Bruhns etwa schuf neben weiss-braunen, langflorigen Tapisserien auch starkfarbige Entwürfe, die auf die Haouz-Region Bezug nahmen. Man ging aber auch den umgekehrten Weg: Französische Designer gaben den marokkanischen Manufakturen Muster vor, mit denen Textilien und Keramik zu verzieren waren (Abb. 4).

Mit der Entwicklung der Innenarchitektur seit den 20er Jahren ist es zu erklären, dass Berberteppiche zu einer Modeerscheinung in europäischen Wohnzimmern der 50er Jahre werden konnten. Die Initiative zur Ausbreitung der "Berber" ging von Le Corbusier aus (4); Er liebte die grossen Rauten der Beni Ouaraïn und Zaïane: "Leur dessin géometrique, determiné par le point noué, donne de l'echelle aux salles, un étalon de mesure. Enchantés de pouvoir faire 'trépider' le sol par endroits. (...) Sa couleur et sa géométrie font comme une moyenne proportionelle entre les matières et les surfaces des murs et des meubles. (...) Faire comme les Berbères: allier à la géométrie la plus notoire fantaisie. Mais définir la fantaisie." (5)

Le Corbusier baute 1923-1925 dem Bankier Raoul La Roche, Sammler kubistischer und puristischer Malerei, eine Villa, die er mit Berberteppichen ausstattete (6). Bei der Einrichtung des "Pavillon de l'Esprit Nouveau" in Paris, der 1925 eine Antithese zur gleichzeitigen Art Déco-Ausstellung sein sollte, präsentierte er diese ebenfalls und begründete sein Vorgehen mit den theoretischen Erklärungen zu seiner Bau- und Ausstattungskunst, die in der Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" erschienen. Ziel seines "Vacuum cleaning", des Ausmerzens der Einrichtung bis auf wenige Standardmöbel, war die "Läuterung der Architektur durch die Leere" (Ozenfant). Die wenigen "objets types" zur additiven Möblierung nach den Bedürfnissen des Bewohners sollten Serienprodukte sein. Um nun individuelle Gestaltungswünsche erfüllen zu können, ersetzte er fehlende Farbwerte warmer Materialien durch "Polychromie architecturale", farbige Architekturteile, die bestimmte Stimmungen erzeugen sollten. Heterogene Gegenstände der Ausstattung sollten drei Welten vertreten: Kultur, Folklore und Industrie. Den "Berbern" kam, naheliegend, die Funktion des folkloristischen Elements zu, und damit standen sie automatisch im Gegensatz zur Kultur, die von der hohen Kunst der Puristischen Malerei vertreten war. Seine Ablehnung des Kunstgewerbes, das in diesem Schema keinen Platz hat, fand in den "Berbern" die geeigneten Vertreter eines Anti-Kunstgewerbes, die gerade durch fehlende Perfektion und Harmonie auffallen.

Folgerichtig erhob Le Corbusier bei der Wahl der Teppiche keinen Anspruch auf künstlerische Qualität. Die oben zitierten Merkmale genügten für seine Zwecke: "La géométrie de la machine nous conduit aux jubilations géométriques." (7) Der unendliche Rapport der Rauten, ihre rhythmische Aneinanderreihung war es, die den Boden zum Vibrieren bringen sollte, nicht etwa die künstlerische Ausstrahlung. Daher genügten ihm die Erzeugnisse der Manufakturen vollauf, ja die fabrikmässige Produktion kam ihm sogar entgegen, da sie sich besser an den Bedürfnissen des Marktes orientierte als die Knüpferinnen in den Berbersiedlungen. Seine funktionellen Wünsche wurden ohnehin fast nur von den Kulturen des Mittleren Atlas erfüllt, aus den Ebenen von Marrakech oder Boujad kann er nach diesen Aussagen kaum Teppiche bezogen haben. In diesem Sinne erklärt sich der Schwerpunkt der in Europa marktfähigen Berberteppiche, der bei den Beni Ouaraïn, Marmoucha und M'rirt, allenfalls noch den Zaïane liegt (Kat-Nr. 30, 32, 37).

Am Bauhaus, seit 1925 in Dessau angesiedelt, waren Berberteppiche ebenfalls bekannt. In Kandinskys Dessauer Wohnzimmer, fotografiert 1932, lag ein Boujad (?) vor einer Sitzgruppe (8). Gunta Stölzl fertigte 1926-1928 Tapisserien, die erstaunliche Ähnlichkeit mit Berbern aufweisen (9), ohne dass hier ein Zusammenhang nachgewiesen wäre. Doch arbeitete sie mit Marcel Breuer zusammen, der die Teppiche kannte, da er mit Le Corbusier Kontakt hatte, und in den frühen 30er Jahren Reisen nach Nordafrika unternahm.

Paul Klee, der bis 1931 am Bauhaus Form und Gestaltung lehrte und bis 1933 in Dessau wohnte, muss davon Kenntnis genommen haben. Ob er allerdings Anregungen von den Berbern bezog, scheint fraglich. Dazu ist die Stringenz seiner Werke, die sich optisch den Teppichen annähern, innerhalb seines gesamten OEuvre zu offenkundig. In seinen Vorlesungen zur Form- und Gestaltungslehre leitete er ähnliche Merkmale in naturwissenschaftlicher Manier ab, so dass eher eine Analogie als die direkte Übernahme anzunehmen ist. Klee mag sich in den "primitiven" Geometrien und klaren Farben der Berber durchaus bestätigt gefühlt haben. Immerhin gehen die Parallelen über formale Ähnlichkeiten hinaus, denn sowohl in der Symbolsprache, der Chiffrierung von Inhalten zu Zeichen sowie auch der Zerteilung seiner Bilder mit der Schere, die an die unvermittelt wechselnden Motivstreifen von Teppichen des Mittleren Atlas erinnern (10), ging er methodisch auf ähnliche Weise wie die Teppichknüpferinnen vor.

Im Gegensatz zu Le Corbusiers Beschränkung auf seine Favoriten, die weissen Rautenteppiche, sind am Bauhaus auch die "wilden" roten Teppiche des Haouz und Boujad ohne rhythmische Musterung beachtet worden. Das Interesse der Bauhaus-Architekten galt den Berberteppichen vor allem wegen ihrer optischen Dominanz, die der kühlen Architektur einen starken Akzent verleihen konnte. Zur grosszügigen Farb- und Motivgestaltung kam als zweiter Vorteil offenbar die mangelnde technische Perfektion: Bei den "wilden" Berbern findet man weder Symmetrie im Muster noch Disziplin in den Abmessungen. Auf dem nur aus Knüppeln bestehenden Nomadenwebstuhl liessen sich präzise rechteckige Stücke nicht herstellen. Anfang und Abschluss sind in der Regel unterschiedlich gestaltet; Fransen gibt es meist nur an einem Ende. Diese Disharmonien boten den erwünschten Kontrast zum bisherigen überladenen Wohnstil einerseits, andererseits aber auch zur eigenen geradlinigen Innenarchitektur.

Um diesen Gegensatz in den grossen Räumen neuerbauter Häuser deutlich zu machen, waren die roten Haouz aus den Ebenen von Marrakech oder die starkfarbigen Teppiche der Zemmour und Zaïane aus dem Mittleren Atlas ideal. Für kleinere Etagenwohnungen aber, die ohnehin meist übermöbliert waren, brauchte man neutrale Bodenbeläge, welche die bis dahin gebräuchlichen Sisalreps-Matten ersetzen konnten und farblich ebenso zurückhaltend blieben. So setzten sich die ungefärbten Berber schliesslich durch.

Bei der Versorgung des mitteleuropäischen Marktes mit genuinen Stammesteppichen spielte eine Interieur-Firma in Zürich die Hauptrolle. Die 1931 im Blick auf den vom Bauhaus vertretenen Stil gegründete "Wohnbedarf AG" verfügte durch ihren Mitgründer, den Kunsthistoriker Siegfried Giedion, über beste Kontakte zur internationalen Avantgarde der Architektur. Mit Le Corbusier arbeitete man 1932 anlässlich einer Wohnausstellung in Genf zusammen (11). Für die Firma entwarf seit diesem Jahr auch Marcel Breuer, der 1928 das Bauhaus verlassen hatte, aber bis 1934 in Berlin wohnte. Er hatte in dieser Zeit Reisen nach Nordafrika unternommen, war vielleicht ausschlaggebend für den Import nach Zürich und trug vermutlich entscheidend dazu bei, die Berber am Bauhaus bekannt zu machen.

In den 50er Jahren bezog der "Wohnbedarf" Berberteppiche von dem Importeur Emil Storrer, einem ehemaligen Fremdenlegionär und exzellenten Kenner der Materie, der die Ware nicht nur bei den Händlern in Marrakech kaufte, sondern selbst in die Dörfer und Täler des Atlas fuhr und bei den Knüpferinnen nach ersten Qualitäten suchte. Auch Gebrauchskeramik brachte er nach Zürich und belieferte von hier aus Kunden in ganz Europa. Zu den Käufern zählte neben zahlreichen Künstlern und Architekten ab 1938 das Kunstgewerbemuseum Zürich (Kat.-Nrn. 3, 32, 34, 39).

Seit den 50er Jahren gewannen die "wilden" Berber Einfluss auf die aktuelle Kunst. Schweizer Künstler, die mit dem hier praktizierten bodenständigen, brauchtumsnahen textilen Handwerk nicht konform gingen, fanden in ihnen neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Gottfried Honegger, Vertreter der Schweizer konkreten Künstler, machte 1951-1953 auf Anregung der Genossenschaft "Wohnhilfe" in Zürich den Versuch, die Bildsprache der Berberteppiche in das eigene Schaffen aufzunehmen und entwarf eine Serie von 24 geknüpften Bodenbelägen, die in der Ostschweiz unter dem Namen "Tisca-Berber" hergestellt wurden. Das Kunstgewerbemuseum Zürich stellte diese Arbeiten 1953 aus. Die Neue Zürcher Zeitung lobte den "fanfarenhaft vehementen Vorstoss", die "wagemutige, oft laute und bunte Koloristik", ohne aber die Quelle von Honeggers Inspiration zu erwähnen.

Man erhoffte sich seitens der Wohnhilfe von den "Berbern" Honeggers offenbar einen farbigen Impuls für Raumtextilien im Interieurstil der Fünfziger Jahre. Anfangs folgte er mit dickflorigen Bodenbelägen diesem Wohnstil, aber in späteren Stücken griff er direkt auf Berbermotive zurück. Er sah seine Teppiche bald als Kunstwerke, die unabhängig von hiesigen Vorstellungen der Textilgestaltung blieben. Im abgebildeten Stück des Museums Bellerive (Abb. 5) nimmt Honegger neben der einfachen Geometrie und der symmetrie- und rahmenlosen Motivkombination auch die Art des Florfadens und die Technik der Berberfrauen auf, dem Teppich mit mehreren Zwischenschüssen einen weichen Griff zu verleihen. In anderen Entwürfen nahm er das für die Glaoua charakteristische Nebeneinander von Flor und Flachgewebe auf, ein "reichlich brüsker Effekt", wie die NZZ am 12.3.1953 befand.

Gottfried Honegger kaufte in den 50er Jahren beim Wohnbedarf einen grossen, einfarbig krapproten Haouz, wie sie in der ersten Jahrhunderthälfte entstanden und heute kaum mehr zu finden sind. Ihren Reiz erhalten diese Teppiche durch den "abrash", eine changierende Tönung in derselben Farbe, die durch verschiedene Wollchargen entsteht, da der manuelle Färbeprozess nie eine konstante Farbintensität hervorbringt. Diese minimalen Unterschiede werden von den Berberfrauen bewusst zur Gestaltung herangezogen. 1958 ging Honegger nach New York, wo er rote Quadrate malte und sich besonders von der Farbfeldmalerei Mark Rothkos angezogen fühlte, mit dem er sich anfreundete. Rothko erzielte mit vergleichbaren Mitteln ähnlich starke Wirkungen, was die Frage eines seiner Bildtitel: "Who is afraid of Red?" durchaus auf die krapproten Teppiche übertragbar macht.

Diese waren im "Wohnbedarf" sehr schwer zu verkaufen, vielleicht weil der von ihnen ausgehende starke optische Reiz keine Konkurrenz duldet. In den schlichten Räumen der Berber ist ja eine solche nicht vorhanden. Dagegen wurde bereits auf der Teppichausstellung des Kunstgewerbemuseums Zürich den beigefarbenen, "wie ein molliges Fell" wirkenden Tisca-Teppichen, die sich von den Erzeugnissen der Beni Ouaraïn (vgl. Kat-Nrn. 30-34) ableiten lassen, eine "diskrete, zeitlose Eleganz" bescheinigt (12).

Nach der kantigen Strenge des Bauhauses fand das Publikum in den 60er Jahren Geschmack an den aus Holz gefertigten, gerundeten Möbeln der skandinavischen Designer, die aber nach wie vor mit Ornamenten sehr sparsam umgingen. Obwohl mit diesem Interieurstil die finnischen Rya-Teppiche optimal harmonierten, passten die hellen, langflorigen Teppiche aus dem Mittleren Atlas immer noch ausgezeichnet. Böden aus Parkett und Klinker boten eine geeignete Unterlage. Den gleichen Kriterien entsprachen die Manufaktur-Berber aus ungefärbter Wolle, die preiswert in den Handel gelangten.

Das postmoderne Interieur, in dem Naturstein, Metall und Plastik dominieren, verlangte nach neuen Impulsen bei den Raumtextilien. Helle Fussböden aus Kalksinter oder Marmor geben für die beigefarbenen Berber keine geeignete Unterlage ab, während das kühle Blau der aus Nepal stammenden "Tibeter" mit abstraktem, von westlichen Designern entworfenem Dekor diesem Material entgegenkam. Sie eroberten in den 70er Jahren den Markt von den Berbern, konnten sie doch mit qualitätvoller Hochlandwolle den Ansprüchen eines liquiden Kundenkreises gerecht werden.

Seit Innenarchitekten und Designer zunehmend farbenfrohe Möbel und Wohnaccessoires auf den Markt bringen, neigt sich das Wohlwollen der Teppichkäufer den kräftig gefärbten, aber sparsam gemusterten Persern aus Gabbeh zu, die ebenfalls von westlichen Designern entworfen sind. Diese Teppiche weisen nicht nur in der Farbigkeit, sondern auch im rapportlosen, asymmetrischen Dekor Ähnlichkeit mit der Knüpfkunst einiger Berberkulturen auf. Sie haben allerdings mit den ursprünglichen Nomadenteppichen genauso wenig zu tun wie die Manufaktur-Berber mit den Stammes- und Dorfteppichen aus dem ländlichen Marokko.

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Anmerkungen:

1 Delacroix, Le voyage au Maroc. Katalog Paris, Institut du Monde Arabe, 1994

2 ebd., Kat-Nr. 15, S. 150

3 Ritt ins dunkle Marokko, Aarau 1937

4 Rüegg, Arthur: Der Pavillon de l'Esprit Nouveau als Musée Imaginaire, in: von Moos, Stanislaus (Hg.): L'Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920-1925, Katalog Zürich 1987, 134-152, s.S. 141, 150-151

5 L'Almanach de l'Architecture moderne, Paris 1926, 170-171

6 Benton, Tim: Raoul La Roche - Sammlung und Haus, in: ebd., 80-93

7 Almanach 1926, 171

8 Kandinsky in Russland und am Bauhaus 1915-1933, Katalog Zürich 1984, 191

9 Abb. in Wortmann-Weltge, Sigrid: Bauhaus-Textilien. Kunst und Künstlerinnen der Webwerkstatt, Schaffhausen 1993

10 Stanzer 1991, S. 95

11 F. Mehlau-Wiebking/A. Rüegg/R. Tropeano: Schweizer Typenmöbel 1925-1935. Siegfried Giedion und die Wohnbedarf AG, = Dokumente zur modernen Schweizer Architektur, Zürich 1989, 42-45

12 Tages-Anzeiger vom 10.3.1953

Bildlegenden (aus Copyright-Gründen nur im gedruckten Band gezeigt)

Abb. 1 Eugène-Alexis Girardet: Nordafrikanische Landschaft, nach 1874, Öl/Leinwand, 66,5 x 87 cm, Privatsammlung
Abb. 2 Frank Buchser: Marokkanische Geschirrverkäuferin, 1886, Öl/Leinwand, 53,5 x 33 cm, Kunstmuseum Solothurn
Abb. 3 Paul Klee: Der Teppich der Erinnerung, 1914, Öl/Leinen auf Karton, 40 x 52 cm, Kunstmuseum Bern, Paul-Klee-Stiftung, Bern
Abb. 4 Vase, Marokko, 20er Jahre, Ton, engobiert und bemalt, Museum Bellerive Zürich
Abb. 5 Gottfried Honegger: Tisca-Berber, 1953, Leinen und Wolle, 196 x 98 cm, Museum Bellerive Zürich


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