Klaus Minges, Dr. phil.


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Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben

Rezension von Klaus Minges



Als 1982 eine knapp 6 cm starke Monographie über die Villa Albani und ihre Antikensammlung erschien (Beck/Bol (Hg.): Forschungen zur Villa Albani, Berlin 1982), war dies ein Novum in der Kunstgeschichtsschreibung, war man es doch bisher gewohnt, sich mit den wenige Seiten umfassenden Aufsätzen zur Sammlungsgeschichte am Beginn eines Bestandskataloges abzufinden. Die qualitätvolle, erschöpfende Rekonstruktion und Würdigung der Sammlung des Kardinals und der Tätigkeit seines Antiquars Winckelmann wurde mit zwei theoretischen Aufsätzen von Liebenwein und Bredekamp abgeschlossen. Beide Texte behandelten in erster Linie die Kunstkammer und hatten mit der Sammlung Albani nur am Rande zu tun, gaben aber einen willkommenen Einblick in Architektur und Theorie des Sammlungswesens der frühen Neuzeit, an dessen Ende die Sammlung Albani steht. Mittlerweile ist die Sammlungsgeschichte und speziell die Kunstkammer ein gefragtes Modethema, was den Wagenbach Verlag veranlaßte, Horst Bredekamps stark überarbeiteten Aufsatz als eigenes Buch herauszugeben. Es zeichnet sich, wie in dieser Reihe üblich, durch leserfreundliche Aufmachung aus. Der knapp 100 Seiten lange Text liest sich anspruchsvoll, ist aber knapp und präzise in der Sprache. Sein Inhalt verdient das Prädikat "aufsehenerregend".

Der Autor schlägt einleitend durchaus überraschend eine Brücke zwischen antiken Skulpturen und den Automatenfiguren der Renaissance. Das Bindeglied ist die Formung natürlicher Materialien durch den Menschen und das Streben nach Ähnlichkeit, das bis zu dem im Pygmalionmotiv ausgedrückten Wunsch nach Verlebendigung reicht. Daraus entsteht die Frage nach der Beziehung des Menschen und seiner Produkte zur denen der Natur, einem dritten Schwerpunkt der Kunstkammersammlungen. Unvermittelt wird die grundlegende These der Abhandlung präsentiert, deren Bestätigung der Geistesgeschichte eine neue Dimension verleihen würde: "Als These sei formuliert, daß die Historisierung der Natur bereits im Horizont der Kunstkammern des 16.-18. Jahrhunderts lag." Die visuelle Erfahrung der Kunstkammerobjekte habe zu einer Dynamisierung der Natursicht geführt, "die durch puren Augenschein zu einer historischen Vertiefung der Naturgeschichte gelangte." Kants Bestimmung des Begriffs Naturgeschichte von 1775 als Veränderung der Natur im Laufe der Zeit statt dem alten Verständnis als Naturbeschreibung beruhe auf zweihundertjährigem "geschichtlichem Tiefendenken" (17).

Um seine These auszubauen, geht Bredekamp anhand dreier bildlicher Darstellungen aus dem Sammlungswesen auf das Verhältnis der Bereiche Naturalia, Artificalia und Antike ein, die als Oberbegriffe das Gros aller Sammlungsobjekte abdeckten. Am Londoner Porträt eines Sammlers von Parmigianino, dessen Hintergrund links von einer in der Bosse stehenden Skulptur und rechts von einer Landschaft gebildet wird, konstruiert er mittels Einordnung der Skulptur ins Reich der (überformten) Mineralien eine Mittlerrolle der Antike zwischen Mensch und Natur. Die Natur, der die Zeit vor der Antike zugeordnet wird, stelle mit dieser eine historische Kontinuität bis zur humanistisch geprägten Gegenwart, die durch die Kunst repräsentiert würde. Löst man sich aber von Bredekamps These und betrachtet die Skulptur als Kunst, so bietet sich für das Bild eine andere Interpretation an: Der Mensch steht als formende Kraft zwischen Natur und Kunst. Die Stellung der Antike als Mittler zwischen Mensch und Natur sucht der Autor an zwei weiteren Bildquellen zu belegen, einem Kupferstich der Metallotheca Mercati und dem berühmten Sammlerporträt des Earl of Arundel von Mijtens. Beide Bilder zeigen die zentralperspektivische Darstellung eines Sammlungsraumes. Der Fluchtpunkt des ersteren liegt in einem antiken Rundtempel mit Statue, beim Arundel-Porträt geht der Blick durch die Antikengalerie in die weite Landschaft. Auch hier bietet sich gegen Bredekamp die Auffassung an, daß nicht etwa das menschliche Auge über die Antiken hinaus in die Natur, den Urprung des Seins, geführt wird, sondern daß jenseits des antik geprägten Raumes die wuchernde Unordnung der Wildnis steht. Denn im Stich öffnet sich bei genauem Hinsehen kein reziproker Perspektivkegel, sondern eine Ruine steht quer. Beim Arundel-Porträt verhindert eine Abschrankung das Durchschreiten des Torbogens am Ende der Galerie. Die Antike vermittelt nicht zur Natur; sie ist die Schwelle vom Chaos zum Kosmos, zur geordneten Welt der zivilisierten Menschheit.

Der somit auf tönernen Füßen errichteten "historischen Kette" der Kunstkammer-Elemente aus Natur, Antike und Kunst fügt Bredekamp mit Hilfe scharfsinniger, aber wenig überzeugender Argumentation als viertes Glied die Komponente Mechanik hinzu, die ihm als Dokument der Naturbeherrschung und Ausblick in die Zukunft gilt. In dieser längs der Zeitachse ausgerichteten Viererkette sieht er die ideale Ordnung der Kunstkammer und erkennt eine historisch orientierte Weltsicht, wo bislang nur eine flächendeckende Beschreibung des Makrokosmos im Rahmen des Begriffspaares Naturalia / Artificalia beobachtet wurde.

Eine Schlüsselstellung in der Sammlungsgeschichte nimmt die erste theoretische Einteilung der Kunstkammersammlungen durch Quiccheberg ein (Quiccheberg, Samuel v.: Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi..., München 1565). Bredekamp übernimmt die unbefriedigenden Deutungen der älteren Literatur, die als vorherrschendes Moment das Lob des Landesfürsten und die Beschreibung seines Territoriums betonte. Es ist bisher übersehen worden, daß seine Klassifikation mehreren verschiedenen Richtlinien folgt: Die Gruppen der ersten Klasse folgen zunächst dem hierarchischen Prinzip; Christentum vor Fürstenwidmung, sodann der Rest der Welt nach Maßgabe der sieben Planeten. Jede Gruppe ist einem Ausschnitt des irdischen Wirkens eines Planeten gewidmet, was an den damals verbreiteten Zyklen der Planetenkinderbilder z.B. des Marten van Heemskerk leicht zu überprüfen ist. Sol als Patron der Herrscher erscheint in der Gruppe der Fürstenwidmung. Geographische Karten repräsentieren die Erde, Stadtansichten den Saturn, der auch als Patron der Städtegründer galt. Krieg und Lustspiel stehen für Mars und Venus, jagdbares Wild und Fischfang beziehen sich auf Schütze und Fische, die beiden Häuser des hier als Jagdpatron verstandenen Jupiter. Aedificorum exempla ex arte fabrili gehören zu Merkur, dem Gott des Kunsthandwerks, während die Maschinenmodelle, die alle mit Wasser zu tun haben, dem Mond zuzuordnen sind. Die erste Klasse bildet also den astrologisch bestimmten Stufenkosmos des frühneuzeitlichen Neoplatonismus ab. Zweite und dritte Klasse zeigen Beispiele aus dem Wirken des Handwerksgottes Merkur und des Saatgottes Saturn im Rahmen des Gegensatzpaares Artificalia / Naturalia. Die vierte Klasse enthält neben einer präzisen Illustration der Artes mechanicae nach Hugo von St. Victor auch das Quadrivium der Artes liberales aus Musik, Geometrie, Astronomie und Arithmetik. Die fünfte Klasse nimmt alles auf, was Quiccheberg nach den bis dato benutzten Ordnungen nicht berücksichtigen konnte. Dieses System aus mehreren verschiedenen Strukturen geht auf das mnemotechnische Theater des Bologneser Gelehrten Camillo zurück, der aber nach Planeten, Elementen und Künsten gegliedert hatte. Dessen Gegensatzpaar Körper und Seele ersetzte Quiccheberg durch Natur und Kunst. Die einzelnen Gruppen sind so angelegt, daß alle Arten von Vergleichen möglich sind. Diese der Idee des Paragone entsprechende Methodik des Vergleichs unterschiedlichster Dinge ist ein Charakteristikum der frühen Neuzeit, das dem heutigen Leser Quicchebergs fremd ist. Nicht die Kontinuität, sondern der Kontrast stand im Vordergrund. Hier liegt der Grund für die gesuchte Gegeneinanderstellung von Natur und Kunst, von alt und neu, von heimisch und exotisch. Entsprechend vielschichtig war die Ordnung in den realen Kunstkammern. Sie ist selten so gut zu durchschauen wie im Dresdner Inventar von 1586 (abgedruckt bei Hantzsch, Viktor: Ältere Geschichte der kurfürstlichen Kunstkammer zu Dresden, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 23, 1902), das Quicchebergs System aufnahm.

Auch Bredekamp erwähnt öfter den Vergleich als Methode, aber er erkennt nicht seine gestalterische Kraft. Statt dessen bezieht er aus dem Nebeneinander von Antike und Moderne sowie dem mehrfachen Auftreten von Maschinenmodellen Belege für seine historische Kette. Ohne die Kenntnis dieser These ist eine vierstufige zeitliche Abfolge in Quicchebergs Werk nicht zu erkennen, vor allem da die Antiken nie als geschlossene Gruppierung erscheinen. Auch bei der Untersuchung der realen Bestände in den habsburgischen Kunstkammern von Ambras und Prag muß Bredekamp seine ganze Argumentationskunst aufbieten, um marginale Anhaltspunkte für seine These greifbar zu machen. Das ist bei der Fülle der Objekte nicht allzu schwer, da ja alle diese Sachgruppen vorhanden waren. Aber eine Verknüpfung im historischen Sinne wiesen sie nicht auf.

Das Kapitel "Forschung und Vision" beschäftigt sich mit dem Einfluß des Kartesianismus auf das Sammlungswesen. Die Auffassung des 17. Jahrhunderts vom Kosmos als Maschine konnte für den Mikrokosmos der Kunstkammer nicht ohne Konsequenz bleiben. Der Autor schildert die Versuche, das kartesische Denken auf die Kunstkammer zu übertragen, wo Uhren und Automaten zunächst eine bedeutende Rolle spielten. Das "Mechanicon" Keplers, ein Entwurf für ein dreidimensionales Modell der von den fünf platonischen Körpern definierten Planetenbahnen, wäre die perfekte Projektion dieses Denkens in die Kunstkammer gewesen. Bredekamp vergißt aber zu erwähnen, daß die Ausfertigung des Entwurfs wegen praktischer Undurchführbarkeit nie beendet wurde (Chojecka, Ewa: Johann Kepler und die Kunst. Zum Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft in der Spätrenaissance, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 30.1967, 55-72, s.S. 57). Das Beispiel ist symptomatisch: Kunstkammer und Kartesianismus vertrugen sich nicht, denn die Betrachtung von Kosmos, Mensch und Natur als Maschine nivellierte die alten Strukturen und stellte den praktischen Nutzen der Naturwissenschaften in den Vordergrund. Die Kunstkammern verloren an Interesse und bildeten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts meist nicht mehr das kulturelle Zentrum eines Hofes. Gemälde und antike Skulpturen dienten der Repräsentation in prunkvollen Schloßgalerien, antike Münzen und Inschriften verschwanden in den Kabinetten der Antiquare und Naturalien füllten eigene Sammlungen, deren Funktion sich von der Darstellung des Kosmos gelöst hatte. Diese Aufgabe war im Sinne des mechanistischen Weltbildes der Uhr zugefallen. Bestehende Kunstkammern blieben wegen ihrer Tradition oder mangelndem Engagement der Besitzer noch lange erhalten, aber nach der Jahrhundertmitte erfolgten keine Neugründungen mehr. Bei unverstelltem Blick wird die Diskrepanz zwischen Philosophie und Kunstkammer aus den folgenden Abschnitten des Buches selbst erkennbar, denn wiederum bleibt die Interpretation einer Bildquelle, die Bredekamp als Beleg anführt, zweifelhaft. Er liest einen Stich Marilliers mit dem Titel "Die Philosophie" von 1762 als Idealbild der Kunstkammer (48). Naturalien und wissenschaftliche Geräte umgeben ein grübelndes Melancholie-Kind unter einem ruinösen Torbogen, der nach Bredekamp die Antike repräsentiert. Er erweist sich jedoch als barocker Korbbogen, und das "Landschaftsrelief", das als einziges Objekt für die Kunst in Anspruch zu nehmen wäre, ist ein Stück des natürlich gewachsenen Ruinenmarmors, einer ungleichmäßig verfärbten Marmorvarietät aus der Toskana, die zwar gerne als Landschaft gelesen wurde, aber keine war. Die abgebildeten Naturalien und Scientifica allein sind aber nicht der Kunstkammer verpflichtet. Eine Begriffshistorisierung hätte gezeigt, daß Philosophie neben ihrer heutigen Bedeutung in der frühen Neuzeit auch die Naturphilosophie umfaßte, deren Gegenstand die Erklärung der Natur darstellte, im Gegensatz zur Naturbeschreibung, die Inhalt der Naturgeschichte war. Der Stich zeigt also keineswegs eine Kunstkammer, sondern illustriert lediglich das Betätigungsfeld der Naturphilosophen, die aber ohne enzyklopädische Sammlung auskamen.

Die Erweiterung des Sammlungskomplexes mit Labors und Werkstätten, in denen Scientifica und Maschinen zu Forschung und Produktion benutzt wurden, vollzog sich schon ab ca. 1600 in allen wesentlichen Sammlungen. Sie trug dem Verlangen des Kartesianismus nach Nutzung zugunsten von Wissenschaft und Wirtschaft Rechnung. Die Kunstkammer war "Geburtshelfer institutionalisierter Forschung" (54). Die Uffizien von 1589 als Komplex aus Galerie, Tribuna, Kabinetten, Werkstätten und Labors sprengten den architektonischen Rahmen der Kunstkammer, während das Konzept mit der Ordnung nach Planeten und Elementen noch der kosmologischen Theorie verhaftet blieb. Nach und nach wuchs der Sammlungskomplex der Paläste zur staatlichen Infrastruktur heran; der Mikrokosmos ging in der Realität des Makrokosmos auf. Die im folgenden beschriebenen autonomen Forschungs- und Lehrsammlungen an Universitäten und Akademien nahmen die Abbildungsfunktion eines Mikrokosmos nicht mehr wahr. Bredekamp verwendet dennoch den Begriff Kunstkammer ungeachtet des Verlustes von architektonischer Form und ideeller Funktion weiter; Er fixiert ihn an dem Begriffstrio Naturalia / Artificalia / Scientifica und unterscheidet nicht zwischen dem abstrakten Gliederungsprinzip und der Realität der Sammlungen. Im zweiten Teil des Buches werden letztere nicht mehr behandelt. Der Autor sucht stattdessen die europäische Geistesgeschichte nach Zeugnissen des historischen Gedankens ab und wird bei Francis Bacon fündig, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Betrachtung der Kunst in Abhängigkeit von der Zeit und dem sozialen Umfeld gefordert hat. Er hätte auch bei Vasari und Karel van Mander Erfolg gehabt, denn in der Tat ist in der Kunsttheorie um 1600 die Forderung nach geschichtlicher Betrachtung von Kunst unüberhörbar. Sie blieb aber über 100 Jahre ohne Konsequenz für die Praxis, weil sie in eine Zeit fiel, in der das Sammlungswesen seinen dominierenden Einfluß auf das geistige Leben verlor. Auch die barocke Kunsttheorie verharrte aus der Sicht des Historikers in Stagnation.

Im vorliegenden Buch verhinderte die These vom historischen Gedanken in der Kunstkammer und die Suche nach Belegen aus zwei Jahrhunderten paradoxerweise die Historisierung der behandelten Institution. Bredekamp behandelt die wenigen zaghaften Versuche, den Entwicklungsstau des geschichtlichen Denkens zwischen Bacon und der Frühaufklärung zu überwinden, und projiziert sie auf den Begriff Kunstkammer. Die Entwicklung im Sammlungswesen selbst ist nicht Gegenstand seiner Überlegungen. Er geht einen anderen Weg und findet, daß der Fortschritt der Wissenschaft auf dem spielerischen Umgang mit dem vorhandenen Material in der Kunstkammer beruht. Mit künstlichen Veränderungen der Natur kann der Mensch das Wesen der Natur erkennen. Versuch und Irrtum kennzeichnen die Schöpfung als Spiel und die Kunstkammer als Spielraum. Dieses Spiel vermittelt einen "Entwicklungswunsch" (65), dessen Nichterfüllung in der frühen Neuzeit Bredekamp nicht als Verharren im zeitlosen Status der scheinbar seit dem Sechstagewerk unveränderten Natur versteht, sondern er ist als "Zwischenstufe" auf dem Weg "jener Vergeschichtlichung der Natur zu denken, die auf Darwins Evolutionstheorie zuläuft" (72).

In der Aufklärung erzielten die gedanklichen Strukturen, die im 17. Jahrhundert angelegt wurden, umfassende Breitenwirkung. Die Forderung nach nutzbringender Anwendung der Sammlungen statt einer Abbildung des Kosmos konstatiert Bredekamp zu Recht als Ende des Kunstkammerensembles, das er erst im 18. Jahrhundert erkennt. Bereits 1623 aber schrieb Bacon seine Utopie Nova Atlantis auf, die zwar mit der Gliederung nach den vier Elementen, den Artes und den fünf Sinnen die kosmologische Mehrfachstruktur als Aufbauprinzip für den Wissenschaftskomplex des fiktiven Inselstaates übernahm, aber einer Kunstkammer keinen Platz einräumte. Im Gegenteil, die Beschreibung der wissenschaftlichen Einrichtungen liest sich wie ein Anti-Kunstkammer-Programm. Ihre alleinige Aufgabe ist das Experimentieren mit den Dingen der Natur, ihre Veränderung zum Nutzen des Menschen und die Produktion der Erträge. Das Wort Sammeln kommt in Bacons Beschreibung nicht vor. Selbst die Boten, die in die Länder der Welt geschickt werden, um Neuheiten zu suchen, sammeln ausschließlich Literatur, die dann ausgewertet wird. Es existieren in Neu-Atlantis nur zwei Sammlungen: "In der einen werden systematisch Musterstücke aller seltsameren und bedeutenderen Erfindungen, in der anderen die Bildsäulen berühmter Erfinder aufgestellt." (Bacon, Francis: Nova Atlantis, Utrecht 1643 (11627); dt. Ausgabe: Bugge/Klein (Hg.), Stuttgart 1982, 56) Bacon läßt also neben einer traditionellen Porträtgalerie als einzig sammlungswürdigen Bereich aller Wissenschaft die Scientifica gelten. Durch das Weglassen der Kunstkammer bringt er seine Ablehnung der Auffassung zum Ausdruck, alleinige Naturbeschreibung könne zu neuer Erkenntnis führen. Er ignoriert die Methode des kontrastierenden Vergleichs, die in den neuen Wissenschaften fruchtlos erscheint, und setzt allein auf das Experiment. Bacons damals noch utopisches Konzept antizipierte einerseits den Bedeutungsverlust der universalen Kunstkammer, gibt aber für die aus ihr hervorgegangene Naturphilosophie den Weiterweg an: Die modernen Wissenschaften müssen sich, um sich nutzbringend weiterentwickeln zu können, von der beschreibenden Naturgeschichte trennen. Labors und Werkstätten benötigen zudem für ihre Experimente Raum, der im Kontext einer Kunstkammer und selbst eines Palastes nicht zur Verfügung steht. Mag man das Fehlen der Kunst auf Neu-Atlantis dem fragmentarischen Charakter des Textes zuschreiben, so läßt doch die Abwesenheit der Naturgeschichte keinen Zweifel an der Radikalität, mit der Bacon die Technik von den Sammlungen abtrennt und ihr den Weg in eine Zukunft zum Wohle der Menschheit weist.

Mit der Ausgrenzung der Kuriositäten und der Vergesellschaftung ähnlicher Dinge zu modernen wissenschaftlichen Strukturen durch Hebenstreit und Buffon ist später auch das Ende der Methodik des kontrastierenden Vergleichs besiegelt, die den Mikrokosmos zusammengehalten hatte. Die Fülle der Belege, die Bredekamp aus dem 18. Jahrhundert für die Auflösung der Kunstkammern zitiert, zeigt nur noch den Kampf der Wissenschaftler gegen die Trägheit konservativer Duodezfürsten und Amateure, deren Kunstkammern die Verachtung gebildeter Zeitgenossen auf sich zogen. Fortschrittliche Sammler besaßen längst reine Gemälde-, Münz- oder Skulpturensammlungen, die sie nur noch gelegentlich mit Hinweisen auf das kosmologische System ausstatteten, wie in der Villa Albani geschehen. Die dort entstandene Geschichte der Kunst des Altertums von Winckelmann dokumentiert den ersten Versuch, eine Kunstsammlung als wissenschaftliches Instrument zu benutzen. Eine "Begründung der Theorie des modernen Kunstmuseums" (89) ist sie nicht; sie verbreitete nur die Gedanken, die Maffei, Caylus und Christ in der Frühaufklärung erstmals formulierten (Seznec, Jean: The Survival of the Pagan Gods, New York 1953).

Mit dem Sprung ins revolutionäre Museumswesen von Paris übergeht der Autor die Einführung der geographisch-chronologischen Ordnung durch Christian von Mechel in der Wiener Gemäldegalerie des Belvedere in den Jahren 1778-1782. Mechel bezog seine Idee aus der Zusammenarbeit mit Lambert Krahe bei der Publikation der Neuordnung der Düsseldorfer Galerie sowie aus den Chronologien der Numismatik (Wüthrich, Lukas Heinrich: Christian von Mechel. Leben und Werk eines Basler Kupferstechers und Kunsthändlers (1737-1817), Diss. Basel 1956, 115); Winckelmanns Vorstellungen spielten bei ihm nur eine Nebenrolle. In Frankreich setzte sich dieses kunsthistorische System erst mit der Neugestaltung des Louvre von 1797 durch, obwohl Mechel sein Projekt bereits 1776 an den königlichen Intendanten d'Angivillers geschickt hatte. Die revolutionäre Louvre-Kommission interessierte sich aber mehr für Zustand und Belichtung der einzelnen Werke als für den Kontext der Sammlung (McClellan, Andrew L.: The Politics and Aesthetics of Display: Museums in Paris 1750-1800, in: Art History VII, 1984, 438-464; Ders.: The Musée du Louvre as Revolutionary Metaphor During the Terror, in: The Art Bulletin 70, Juni 1988, 300-313). So blieb dem Louvre trotz der Propaganda der Revolutionäre die Schrittmacherfunktion versagt.

Obwohl die theoretischen Schriften der späten Renaissance Ansätze einer historischen Denkweise erkennen lassen, muß Bredekamps These eines historisch fundierten Entwicklungsdenkens für das Sammlungswesen der frühen Neuzeit abgelehnt werden. Eine Untersuchung mit dem Anspruch, eine überzeugende geistesgeschichtliche Interpretation der frühen Sammlungen zu liefern, kann nicht ohne die Grundlage einer breiten Auswertung der Kollektionen selbst sowie der Überprüfung des Bedeutungswandels von Schlüsselbegriffen wie Philosophie und Technik auskommen. Die korrekt ausgeführte Historisierung des Begriffes Naturgeschichte bleibt ohne Auswirkung auf die dann doch mißverständliche Interpretation der Schriftquellen. Der im Sinne geschichtlicher Betrachtung geschulte Blick der heutigen Zeit wird dem damaligen Denken nicht gerecht. Das Buch kann deshalb den Anspruch seines Titels, Licht in die Geschichte der Kunstkammer zu bringen, auch nicht ansatzweise erfüllen.

Klaus Minges

Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Wagenbach Verlag Berlin 1993 (kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd.41), 122 Seiten mit 42 Abb. im Text, DM 27.-

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Klaus Minges · Mail: klausminges@yahoo.com · Web: www.minges.ch