Klaus Minges |
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Sie sind hier: Index / Reisen / Jorasses - zurück nach Südafrika, Kapstadt und auf den Tafelberg. Von Kathedralen, Madonnen und BiwaknächtenTouren im Mont Blanc-MassivEtwa gleichzeitig mit mir tauchte im Akademischen Alpen-Club Zürich ein Schotte namens Bruce Normand auf. Schotten sind in unseren Breitengraden berüchtigt, weil sie, gestählt in den Gullies von Ben Nevis und Snowdon, unglaublich gut eisklettern, dabei unempfindlich sind gegen Kälte und Alkohol; sie rauchen Pfeife und spielen Golf. Welches dieser Klischees auf ihn zutraf und welches nicht, stellte Bruce sofort klar: "I don't smoke and drink, and I don't play golf, so they threw me out." Seither durchwandert er den Globus wie der ewige Jude, ruhelos auf der Suche nach hohen Bergen und Physik-Kongressen. Als er mich aufforderte, einige Touren im Mont Blanc-Massiv mit ihm zu gehen, kaufte ich ganz gegen meine Gewohnheit keinen Wein, sondern neue Eisschrauben.
Ein gemeinsames Ziel war schnell gefunden, denn seine Vorliebe für Walker-, Croz- und sonstige Pfeiler lenkte den Blick rasch auf die Grandes Jorasses. Himmelstrebende Pfeiler, Eisfelder so steil wie ein Kirchendach - in diesem Berg gipfelten auch meine Ideale, die unter anderem vom Münster in Freiburg im Breisgau geprägt sind, dessen Baugeschichte ich als Kunsthistoriker ausgiebig studiert habe. Übrigens auch seine Besteigungsmöglichkeiten: 5b mit Baugerüst und 6a ohne ein solches, denn dann leitet nur ein glatter Stemmkamin zwischen Turmkante und erstem Strebepfeiler des Seitenschiffs zum Dachtrauf des Langhauses. Der turm selbst wird zunächst einfach über die äussere Wendeltreppe erstiegen. Begeisternd ist die luftige Kletterei am durchbrochenen Masswerk des Turmhelmes (4a), denn zwischen den Griffen hindurch schaut man auf das nächtliche Freiburg. Ein dynamischer Klimmzug über die Kreuzblume, und man ist dem Herrgott einen Schritt näher. Verdriesslich an dieser Kul-Tour ist für den Kletterer wie den Denkmalpfleger die Brüchigkeit des Buntsandsteins, vor allem auf der Wetterseite. Was also lag für uns näher als eine Besteigung der Jorasses, jener Kathedrale aus - wie wir meinten - eisenhartem Granit und bläulichem Eis? Von den Nordwandrouten konnte ich Bruce mit Hinweis auf meinen kürzlich gebrochenen und nun mit Edelstahl gespickten Rückenwirbel abbringen. Der nur halb so hohe Hirondelles-Grat, von Freunden als rassige und höchst seriöse Unternehmung geschildert, vermochte seinen Ansprüchen Genüge zu tun, ohne mich zu überfordern. Als Eingehtour wählten wir den Mont Dolent, dessen Nordgrat sich ob seines langen und spaltenreichen Zustieges wohltuend von den übrigen Routen auf den Dreiländergipfel abhebt. Bruce, generell nur schwer für eine Hüttenübernachtung zu gewinnen, zog den Moränenschutt einem Matratzenlager vor. So musste ich mich auf der Cabane de l'A Neuve allein der beiden Bergführer erwehren, die eine Passage des Gletschers bei Dunkelheit für dubios hielten. In der Tat war eine phantasievolle Routenwahl nötig, um durch das Spaltengewirr zu einer etwa 60° steilen Querung zu gelangen, die den Zustieg zum Grat vermittelt. Eine Eislawine vom Ostgrat, die uns mit Schneestaub einhüllte, bestätigte eindrucksvoll unsere Entscheidung für diese Variante. Der genussvolle Grat, der zwischen dem Schweizer Val Ferret und dem französischen Argentiere-Kessel in Richtung Italien leitet, kulminiert in einer Gipfelmadonna, die entrückt unter ihrem Anstrich aus Ofenrohr-Bronze hervorlächelt. Ihre wenig ansprechende Qualität stützte meine These, dass die zahlreich sichtbaren Blitzeinschläge nicht auf die grosse Exposition, sondern auf den Zorn Gottes über so viel Hässlichkeit zurückzuführen sind - eine Theorie, die bei meinem technokratischen Seilpartner auf wenig Gegenliebe stiess. Der Wanderweg
durch das italienische Val Ferret und ein hochalpiner Hüttenzustieg
brachten uns zum erfreulich abgelegenen Gervasutti-Biwak. Dass die
einem Schwalbennest ähnliche Lage seitlich an einem Felskopf des Glacier
de Frébouze dem Hirondelles-Grat den Namen gegeben hat, ist
historisch nicht zu beweisen, doch gibt diese Situation eine gute
Einstimmung auf den kommenden Aufstieg. Nächtliche Wegfindung im Spaltengewirr
hatten wir bereits geübt, und so konnten wir den Sonnenaufgang vom
Col des Hirondelles bewundern. Doch mit der Sonne erschien eine merkwürdig
geformte Wolke, deren runder Buckel und ausgefranste Stirnseite mich
an einen berühmten Holzschnitt des Japaners Hokusai erinnerten, "die
Woge", welche im Begriff ist, ein winziges Boot zu verschlingen.
"Now
we have a weather problem." Wir hetzen zwei Seillängen hinauf, dann beginnt es zu graupeln. Normalerweise sollte man jetzt nach rechts queren und dem Gobbi-Riss zurück auf den Grat folgen. Angesichts der Blitzgefahr lassen wir das und halten uns an eine seichte Rinne, die Route der Erstbegeher, die über kompakte Stufen in den oberen Teil der Ostwand führt. Bereits an der ersten dieser Stufen bleiben wir in Schnee und Hagel stecken, während höher am Grat Blitz und Donner toben. Ein knapp zwei Fuss breites Band erlaubt uns, an Friends hängend die Reservewäsche und alles, was sich wasserdicht nennt, anzulegen. Betreten schauen wir zu, wie sich der nächste Aufschwung, der schon vorher nicht leicht aussah, mit Weiss überzieht. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei. Die Sonne scheint, und der Schnee tropft aus der Wand; wir gehen den Überhang an. Bruce verbeisst sich in einen abdrängenden Riss, quert nach rechts, steigt wieder ab, um den Rucksack zu deponieren, versucht es erneut und scheitert. Führungswechsel. Die Stelle ist kurz, aber der Ausstieg glitschig und nicht abzusichern. Ein ausgeklügeltes System von Trittschlingen erlaubt mir das Erreichen des zweiten Hakens, dann verlässt mich die Moral. Bruce schafft schliesslich den Durchstieg. Wir sind zehn Meter höher und eine Stunde älter. Nach oben hin wird die Wand leichter, aber nicht besser. Über etliche Längen zerren wir das Seil durch Matsch, Dreck und Geröll, schieben uns langsam höher, können kaum sichern. Es hat wieder angefangen zu schneien. Ein zweites Gewitter fegt über den Berg und blockiert uns im Schrofengelände, etwa zwei Längen unterhalb des Gipfelgrates. Zwar zieht der Donner irgendwann ab, aber das Schneetreiben bleibt. Wir müssen weiter und steigen wieder gleichzeitig am Seil - Bruce legt Zwischensicherungen, bis ihm das Material ausgeht, dann wartet er auf mich, um es zurück zu erhalten. Das Führen habe ich mittlerweile aufgegeben. Endlich am Grat, setzt bereits die Dämmerung ein. Um neun Uhr abends stehen wir am Gipfel - Schneesturm und 20 Meter Sicht. Wo ist der Abstieg? Eine verblasene Trasse scheint nach links zu führen. In dem steilen, völlig durchweichten Südhang verlieren wir nicht nur die Spur, sondern auch immer schneller an Höhe, schliesslich genauso schnell wie der Sulzschnee unter, neben und mit uns. Am Ende der Flanke schüttet der Schneerutsch vor unseren Füssen den Bergschrund zu, und wir stehen in stockfinsterer Nacht auf einem Gletscherplateau. Kartenlesen ist im Sturm auch mit Lampe kaum noch möglich. Wir müssen nach Westen; dort sollten wir irgendwann auf die Reposoir-Felsen stossen, die den Abstieg südlich zum Rifugio Boccalatte vermitteln. Oberhalb eines Seracs querend finden wir am südlichen Ende eines Eisrückens tatsächlich Felsen. Aber sie vermitteln nichts, sondern ragen steil und schwarz in den Flockenwirbel, während zu beiden Seiten der Gletscher ins Bodenlose abbricht: Wir sind auf der Rückseite der Tour des Jorasses, eines abgelegenen und schwierigen Nebengipfels irgendwo in den Gletscherbrüchen der Südflanke. Ich bin
am Ende, körperlich und mental. Kein trockener Faden ist mehr am Leib,
jedes Schneekristall peitscht das Gesicht wie mit Nadeln. Wir müssten
wieder aufsteigen, aber der Rucksack zieht mich fast zu Boden. Auch am Morgen will das "abendliche Wärmegewitter" nicht weichen. Die Spalte ist mit uns und dem Neuschnee nun fast bis obenhin gefüllt. Wir graben uns und das Material aus und wühlen uns gegen den unvermindert heftigen, aber nicht sehr kalten Sturm zum Plateau hinauf. Es gibt im Grunde keine Möglichkeit, falsch zu gehen: Westlich des Hängegletschers erreichen wir die Whymper-Rippe, die uns vom Glacier des Planpincieux und den Reposoir-Felsen trennt. Wir müssen wieder auf dem Normalweg sein, der hier die Rippe kreuzt. Aber was für eine Querung! Abschüssige, verschneite Platten ohne jede Sicherungsmöglichkeit. Kein Eis, in dem Steigeisen halten würden, sondern schlüpfriger Matsch und lockere, trügerische Schneehaufen auf poliertem Granit. In mehrfachem Auf und Ab schwindelt sich Bruce hinüber, während ich so tue, als hätte ich den Pickel irgendwo verkeilt und könnte sichern. Bruce, freihändig in der Plattenflucht stehend, erspart sich dieses Blendwerk und winkt mich einfach zu sich. Tatsächlich findet sich auf der anderen Seite der Rippe eine Abseilschlinge, die uns auf den Gletscher bringt. Wir sind draussen. Weiter unten klart es kurz auf. Wir können ins Tal sehen und erreichen, immer noch tropfnass, am Mittag das Rifugio Boccalatte, bevor es wieder beginnt, in Strömen zu giessen. Der Hüttenwart verkauft uns eine Minestrone. Obwohl noch zwei weitere Unglücksraben vom Crozpfeiler eintreffen, sieht er keine Möglichkeit, den winzigen Raum zu heizen. "Ihr seid direkt nach Süden abgestiegen? Das war falsch, aber es passiert vielen. Wo habt ihr biwakiert? In dieser Spalte oberhalb der Tour des Jorasses? Jaja, das machen alle so." Kein Grund zur Aufregung. Ich lege mich hin und schlafe 15 Stunden durch. Man soll ja einen schlechten Eindruck möglichst bald durch einen guten ersetzen. Zwei Wochen später fuhren wir wieder ins Massiv, wo talwärts geflossene Fahrwege und fehlende Brücken an das Unwetter erinnerten. Mein Vorschlag, den Mont Blanc von Süden über den Innominata-Grat anzugehen, entsprang unter anderem meiner Vorliebe für Madonnen und einem Irrtum, hatte ich doch als Nichtkatholik "Innominata" mit "Immaculata" verwechselt. Fatal, denn der Weg über diesen "unbenannten" Grat ist in Tat und Wahrheit durchaus "befleckt", besonders im Bereich des Eccles-Biwaks, das exponiert auf einer winzigen Felsplatte steht. Im Zustieg hatten wir zwei Israeli getroffen, die wegen Höhenproblemen abstiegen. Wie wir oben feststellten, hatten sie sich unmittelbar vor der Tür das Essen noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was zusammen mit älteren Absonderungen in der warmen Abendsonne ein sehr spezielles Aroma ergab. Bruce entzog sich diesem Odeur, um vorsorglich den Weg zum Col Eccles, unserem Einstieg, zu erkunden und zu spuren, während ich mittels Schmelzwasser den Biwakeingang begehbar machte. Dies sollte tatsächlich die einzige Beanstandung auf unserer Traumtour bleiben. Verhältnisse und Wetter waren optimal, weder Wolken noch Blankeis trübten die Stimmung. Nach den ersten Seillängen im Licht der Stirnlampe hielt uns die Schlüsselstelle bis zur Morgendämmerung auf. Eine senkrechte Schuppe verlangt einen Kraftakt, der von einer fest installierten Trittschlinge kaum erleichtert wird. Den Rest der in allen Belangen herausragenden Route gingen wir wieder gleichzeitig, was uns erlaubte, mittags am Mont Blanc de Courmayeur auszusteigen und über die "Cathedrale" de Goûter und den italienischen Normalweg gut sechs Stunden später unbehelligt die Fahrstrasse im Val Veni zu erreichen. |
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Klaus Minges · Mail: klausminges@yahoo.com · Web: www.minges.ch |
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