Klaus Minges


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Erstbesteigungen im östlichen Pamir


Die Sechstausender des Aksay-Tales östlich des Pik Lenin

Als einem der Vorturner des Akademischen Alpen-Clubs Zürich (AACZ) fiel mir die Aufgabe zu, 1998 eine Expedition in den chinesischen Teil des Pamir-Gebirges zu leiten. Meine Erfahrung als Trekking-Führer im Hohen Atlas, in Sinai und Jemen weckte Interesse, denn mit seiner hundertjährigen Tradition, alpines Neuland zu erforschen, setzen sich Expeditionen des AACZ nicht Wiederholungen berühmter Gipfel oder Routen zum Ziel, sondern lupenreine Erstbegehungen. Das Grenzgebiet der schwindenden Machtblöcke des Ostens bot dafür ein willkommenes Vakuum.

Basislager, Buduk Seltau 6220m

Bis dato hatte zum Dreiländereck China-Pakistan-Tadschikistan außer dem Militär niemand Zugang. Als erster und wohl auch letzter Europäer war der Asienforscher Sven Hedin 1894 durch diese Region gezogen. Um das Zielgebiet im Ostpamir zu erkunden und die nötigen Kontakte herzustellen, fuhren wir im Vorjahr des Unternehmens als Dreierteam nach Xinjiang. Von Kirgistan aus folgten wir per Landrover einem Zweig der alten Seidenstraße über das Tien Shan-Gebirge. Gerade hatte man den Torugart-Pass nach Xinjiang wieder eröffnet, womit eine fünfzigjährige Trennung muslimischer Turkvölker zu beiden Seiten des rot/roten Vorhanges zu Ende gegangen war - nicht aber deren Drangsalierung durch Russen oder Han-Chinesen. Im Würgegriff des chinesischen "Mutterlandes" verlieren die Uiguren der Talschaften und die Kirgisen der Bergregionen langsam aber sicher den kulturellen Halt.

An der Grenze begrüßte uns, von Kashgar gekommen, der von den Chinesen gestellte Dolmetscher. Hinten im Bus querliegend schnarchte ein unförmiger Uigure in kartoffelfarbigem T-Shirt, angeblich unser Koch. Der entpuppte sich später in Zweitfunktion als Verbindungsoffizier im Rang eines Obersten. Zudem war er stellvertretender Chef des Bergsteigerverbandes der Provinz - selbst für den obersten Sachverstand war unser Ziel ein weißer Fleck. Sein Auftreten, die Figur und besagtes T-Shirt, das wohl irgendwann operativ entfernt werden musste, trugen ihm den Spitznamen "Big Potato" ein.

Nach Klärung der Formalien und dem Verladen einer vom Verband gestellten Zeltküche folgten wir dem Karakorum-Highway in Richtung Pakistan. Nahe dem bekannten Mustagh Ata, türkisch für "Vater der Eisberge", bogen wir rechts ab in ein von nomadisierenden Kirgisen bewohntes Hochtal namens Aksay, "weiße Ödnis", das sich in Größe und Charakter etwa mit dem schweizer Oberengadin vergleichen lässt. Im einzigen festen Dorf des Tales kaufte Big Potato vier lebende Hühner. Dann verschwand er im chinesischen Militärposten, um uns anzumelden. Dieser Vorgang verlangte Geduld, selbst von unserem Oberst. Um Mitternacht endlich brachte er nach zwölfstündigen Verhandlungen die Bewilligung, die von uns angepeilte Kirgisensiedlung anzusteuern und von dort aus weiter vorzudringen.

Kirgisendorf, Aksay-Kette
Buduk Seltau (6220 m)

Die Kirgisen empfingen uns freundlich, neugierig, selbstbewusst. Ihr Leben als Viehzüchter ist frugal, aber nicht karg; sie sind, gemessen an ihren Ansprüchen, wohlhabend. Neben mancher Jurte steht ein Sonnenkollektor, der drinnen einen Fernseher betreibt. Das einzige, was sie an unserer Ausrüstung interessierte, waren Bergschuhe und Mückenschutzmittel. Ob schon einmal jemand auf den Gipfeln gewesen sei? Nein, denn wo Schnee liegt, gehen weder Weidetiere noch jagdbares Wild hin, und eben, solche Schuhe hätten sie nicht.

Zur Dorfkommune gehörte ein steinalter, offenbar handgeschmiedeter Lastwagen, dessen Bodenfreiheit ausreichte, um über die vom Schmelzwasser der Gletscher zerfurchten Schuttflächen hinweg die Lager der Sommerweiden anzusteuern, sowie um über die ruppige Talstraße zum Markt von Kashgar zu gelangen. Wir mieteten ihn samt Fahrer, um den Fuß der Kette von Sechstausendern zu erreichen und dort den Ort des Basislagers festzulegen. Die Holperei dorthin bezahlten zwei der Hühner mit ihrem Leben. Big Potato schmiss sie unterwegs in einen Graben, worauf wir so taten, als ginge es uns gut.

Blick vom Basislager zum Kaltasel (6026 m, rechts)   Aksay Bax (6146 m) Ostgrat

Die Gegend des Lagerplatzes lag in halbwüstenhafter Vegetation, durchrissen von Sturzbächen, die jeweils nachmittags die grasigen Brutstätten zahlloser Moskitos fluteten. Die Schluchten gaben sich wenig einladend, doch die Rücken der Bergflanken erwiesen sich in der Regel als begehbar. Schwierigkeiten ließ allenfalls das lose Gestein der Gipfelgrate erwarten. Nach einigen Erkundungen fassten wir deshalb den Plan, bereits auf dieser Vorexpedition einen der vier unerstiegenen Sechstausender anzugehen, ohne offizielle Bewilligung. Das Risiko schien uns gering. Big Potato stuften wir als wohlwollend ein, er würde uns nicht gleich einkerkern lassen. Wir fehlinformierten ihn mit der Bitte um ein mobiles Abendessen, packten eines unserer Bergzelte und die Gletscherausrüstung ein und stiegen zwei Tage lang bergauf. Als schwerste Last erwies sich mit zunehmender Höhe das Gehirn, das im Schädel zu randalieren begann, obwohl es nur für Routinefunktionen gebraucht wurde. Der Gipfel bot neben informativen Ausblicken wie üblich das angenehme Erlebnis, dass es nach allen Seiten bergab ging.

Wir waren hier oben die ersten Menschen, und ich empfand - - nichts. Statt der erwarteten Euphorie nur eine Leerstelle, dann ein Fragezeichen. War das alles?

Natürlich hat mich insgesamt die fremde Landschaft und Kultur begeistert, und die Tatsache, gegen allerlei Widerstände etwas Ungewöhnliches vollbracht zu haben. Auch die eigentliche Expedition ein Jahr später, die uns vier weitere unerstiegene Gipfel einbrachte, konnte das Gefühl befriedigter Neugier und den Stolz der Erstbegehung nur gerade wiederholen, aber nicht zu tiefer Emotion steigern. Auf dem dritten "unserer" Sechstausender, den ich vor allen Gefährten betrat, bestätigte sich diese merkwürdige Leere. Kein dokumentierbares Erst und Höchst konnte die Enttäuschung verdecken, weit unter meiner technischen und mentalen Leistungsgrenze geblieben zu sein.

Mehr über die Expedition: AACZ


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Klaus Minges · Web: www.minges.ch